Report München


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Bürokratie bremst Inklusion Menschen mit Behinderung als Verlierer am Arbeitsmarkt

Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum Chancen auf Beschäftigung - auch dann nicht wenn sie arbeiten wollen und könnten. Ihnen bleibt nur die Ausbildung in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung, wo sie dauerhaft zu Niedriglöhnen beschäftigt werden. Obwohl Deutschland von UN und EU aufgefordert wurde, diesem Personenkreis bessere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, hält die Bundesregierung am System der Werkstätten fest.

Author: Ulrich Hagmann, Gabriele Knetsch

Published at: 30-1-2023

Philipp Orenic ist froh, dass er eine reguläre Anstellung in einem Hotel in Augsburg gefunden hat. Denn er hat eine kognitive Beeinträchtigung. Üblicherweise arbeiten Menschen mit dieser Diagnose in Deutschland in speziellen Werkstätten. Dort stellen sie Produkte für die Industrie her - der Stundenlohn liegt deutlich unter dem Mindestlohn in Deutschland.

Das Hotel "einsmehr" in Augsburg ist eine von wenigen privaten Initiativen, die Menschen wie ihm eine Chance auf einen Job außerhalb der Werkstätten bieten. Er arbeitet im Housekeeping. Ihm macht die Arbeit Spaß. 30 Minuten für ein Hotelzimmer, das ist die Zeitvorgabe, die sich das Team selbst gegeben hat und die er einhält.

Der 20-Jährige hat den Abschluss einer Förderschule. Damit darf er keine klassische Berufsausbildung machen. Und ohne Ausbildung bekommt er kaum einen Job - auch wenn Fachkräfte händeringend gesucht werden.

Oft keine Chance auf bezahlte Arbeit

"Weil die Berufsausbildung in Deutschland an die Berufsschulpflicht gekoppelt ist, fehlt ein passendes Angebot für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung", sagt Jochen Mack, Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins "einsmehr".

Die Elterninitiative hat das Problem erkannt und ist mit Unterstützung von Spenderinnen und Spendern sowie der "Aktion Mensch" aktiv geworden. Im "einsmehr"-Hotel in Augsburg bilden sie Menschen mit kognitivem Handicap zu Hotelpraktikern aus. Philipp Orenic hat diesen Kurs durchlaufen und ist jetzt festangestellt. Gut die Hälfte der Belegschaft im Hotel "einsmehr" hat eine kognitive Einschränkung.

Privatinitiative schafft, was Arbeitsagentur selten gelingt

Eigentlich haben Werkstätten für behinderte Menschen den Auftrag, sie für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Die Bundesagentur für Arbeit soll sie vermitteln. Doch nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales lag die Vermittlungsquote 2019 bei nur 0,35 Prozent.

Das Ministerium will an dem aktuellen System dennoch nichts ändern. Derzeit seien keine weiteren gesetzlich geregelten Ausbildungsangebote geplant, "die Menschen mit Behinderung eine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt bieten", teilt das Ministerium auf Anfrage von report München mit.

Mehrere Rügen: Deutschland verstößt gegen UN-Konvention

Das deutsche Werkstattsystem wurde vom zuständigen UN-Ausschuss schon 2015 gerügt - und 2021 vom EU-Parlament. Beide Institutionen haben Deutschland aufgefordert, das Werkstatt-System auslaufen zu lassen und insbesondere Menschen mit geistigen Behinderungen beim Zugang zum regulären Arbeitsmarkt besser zu fördern.

Doch passiert ist seither wenig. Die Vermittlungsquote liegt seit Jahren deutlich unter einem Prozent und die Zahl der in Werkstätten Beschäftigten weitgehend stabil bei knapp 300.000.

"Ausbeutung": 40 Stunden Woche für 212 Euro Verdienst

Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit 35 bis 40 Stunden pro Woche, so das Bundesarbeitsministerium. Der durchschnittliche Verdienst lag demnach bei 212 Euro im Monat. "Ausbeutung" sei das, sagt die Europaabgeordnete der Grünen, Katrin Langensiepen. Denn die Werkstätten würden Aufträge für viele namhafte Industriebetriebe erledigen.

"Nirgendwo auf der Welt können sie so günstig produzieren wie in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung", sagt die Europa-Politikerin im Interview mit report München. Das liege auch an der Tatsache, dass die Betriebe mit Aufträgen an die Werkstätten die sogenannte Ausgleichsabgabe vermeiden könnten. Denn ab einer Zahl von 20 Beschäftigten müssen Betriebe Menschen mit Behinderung einstellen oder eine Ausgleichsabgabe zahlen.

"Ein System, von dem alle profitieren, nur nicht die Menschen mit Behinderung", sagt die Abgeordnete, die für das EU-Parlament den Bericht zum Stand der Inklusion verfasst hat.

Erwerbsminderungsrente: Anspruch nach 20 Jahren

Gegenüber report München verweist das Ministerium darauf, dass die Beschäftigten in den Werkstätten Grundsicherung und Betreuungsleistungen erhielten - und nach 20 Jahren Beschäftigung Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hätten. Dieses Argument reicht Katrin Langensiepen und Jochen Mack aber nicht aus. Schließlich gelte in Deutschland der Mindestlohn - und auf den sollten alle Menschen Anspruch haben.

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Marie Busch, Sonntag, 12.März 2023, 15:14 Uhr

5.

Einfach nur traurig dieses Deutschland. Menschen mit Behinderungen haben kaum Chancen in dieser Gesellschaft und landen auf dem Abstellgleis. Sonderwelten wie Behindertenwerkstätten und Berufsbildungswerken sind keine Inklusion.
#Ableismussucks

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Harald Waldhäuser, Montag, 06.Februar 2023, 14:32 Uhr

4. Menschen mit Behinderung

Eine Frage der Perspektive: Das gleiche Bild kann man unterschiedlich bewerten. Man hätte auch berichten können, wie schlecht die Arbeitsbedingungen des dargestellten jungen Mannes im Film sind. Zum Putzen der Duschabtrennung muss er im Nassbereich hüpfen. Die Toilette muss er im knieen ohne Handschuhe putzen und um die Zeitvorgabe einzuhalten, muss er rennen. Aber sicherlich darf er so arbeiten, wie es für ihn passt und er ist glücklich.

Auch viele Menschen in den Werkstätten sind glücklich. Sie haben ein Umfeld, das sich ihren Bedürfnissen anpasst, Arbeit, die in Art und Menge ihren Fähigkeiten entspricht (und in der Regel keinen Mindestlohn erwirtschaftet) und Personal, das sich motiviert für eine individuelle Förderung engagiert.

Manche Menschen sind in der Werkstatt unglücklich, weil ihre Selbsteinschätzung zu ihren Fähigkeiten unrealistisch ist ...
Oder weil die Leistungsgesellschaft wohl nicht so richtig inklusionskompatibel ist?

Eine Frage der Perspektive?

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Brunhilde Brugger, Mittwoch, 01.Februar 2023, 19:24 Uhr

3. Alternative Sichtweise

Die Sichtweise in der Report- Sendung über Werkstätten für behinderte Menschen ist meiner Meinung nach nicht vollständig. Werkstätten bieten neben den beruflichen Bildungschancen auch pädagogische Unterstützung im Arbeitsalltag, Jobcoaching um Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begleiten und vielfältige arbeitsbegleitende Maßnahmen an. Das wird in der Berichterstattung "vergessen".
Ich weiß, dass es Werkstätten gibt, die ihren Job sehr professionell machen, andere leider weniger.
Aber grundsätzlich das ganze System infrage zu stellen, ist ungerecht. Ich kenne über ganz Deutschland verteilt tolle Angebote mit viel besseren Vermittlungsquoten als das im Bericht benannt wird.
Es stimmt, dass die Bezahlung der Arbeitsleistung eine andere Haltung braucht von den Auftraggebern. Aber vielleicht auch mehr professionelles Verhandlungsgeschick der Werkstätten und eine verbesserte Gesetzgebung. Ein Bsp: Arbeitsfördergeld kommt nur zur Auszahlung kommt, wer weniger als 299 € verdient

  • Antwort von Marie Busch, Sonntag, 12.März, 15:16 Uhr

    Sie sind nicht selbst davon betroffen. Auch ein Mensch mit geistiger Behinderung möchte nicht für 2 Euro die Stunde 40 h die Woche Wäscheklammern sortieren. Wollen Sie das? Bestimmt nicht.

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Annett , Mittwoch, 01.Februar 2023, 11:12 Uhr

2. Werkstätten geben guten Raum

Ich bin froh, dass mein Kind die Möglichkeiten der Schule mit Schwerpunkt geistige Entwicklung und nun die Werkstatt hat. Dort wurde er mit seinen Behinderungen sehr gut gefördert und ich habe immer gestaunt, was Pädagen alles für kleinteilige und somit motivierende Ideen haben.
Die inklusive Beschulung, ja sogar der inklusive Kindergarten haben ihn in der Entwicklung behindert. Zu viele Eindrücke verlangsamten die eigene Entwicklung. Zu oft hatte er doch andere Bedürfnisse als Mitschüler.
Bitte hier nicht schwarz/weiß denken und fordern!
Für eine Vielzahl von Menschen ist der geschützte Rahmen genau richtig. Die niedrigste Bezahlung und das jährliche beantragen der Grundrente ist meiner Meinung nach absurd. Dies zusammengeführt wäre auch schon eine andere Entlohnung.
Der beruflicher Bildungsweg in den Werkstätten hat schon gute Startideen. Manches braucht mehr Zeit als bisherige Maßnahmen erlauben. Bitte bleiben wir alle offen für Verbesserungen und stampfen nichts übereilt ein.

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Heidrun Singer, Mittwoch, 01.Februar 2023, 10:25 Uhr

1. Menschen mit Behinderung Verlierer am Arbeitsmarkt

Das Verlieren beginnt schon in der Schule. Es gab eine gute Satire-Sendung im ZDF "Die Anstzalt" zur zum Teil sehr verlorgenen Inklussion in den Schulen wo Kinder bewußt krankgeschrieben werden damit die Zahlen stimmen und auch ein Artikel dazu im Spiegel über das gleiche Thema. Die Kultusminister sind allerdings der Meinung es laufe als richtig und gut. So lange wir nicht anfangen richtige Inklussion in der Schule einzuführen und weiterhin diese Menschen in den Förderschulen klein halten, wird das auch auf dem Arbeitsmarkt nichts. Es ist in meinen Augen so gewollt, in den Werkstätten, in die dann diese Menschen kommen, hat man ja ganz billige Arbeitskräfte. Das ist einfach nur menschenverachtend.

  • Antwort von Marie Busch, Sonntag, 12.März, 15:20 Uhr

    Endlich mal jemand der dieses Leid versteht und die Problematik erkennt.

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