ARD alpha - Klassiker der Weltliteratur


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Klassiker der Weltliteratur W. Somerset Maugham - "Liza von Lambeth"

William Somerset Maugham war ein äußerst produktiver Schriftsteller. Dennoch las er so gut wie nie öffentlich aus seinen Werken. Hauptsächlich, weil er stotterte und zeitlebens unter diesem Handicap litt. Auch noch, als er bereits einer der erfolgreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts geworden war.

Stand: 05.07.2016 | Archiv

William Somerset Maugham | Bild: picture-alliance/dpa / Oxford Science Archive / Heritage Images

Somerset Maugham (1874 - 1965) wuchs in Paris auf. Mit zehn Jahren verlor er seine Eltern und wurde in ein Internat nach Canterbury in England geschickt. Diese Zeit, die für den Jungen extrem schlimm war und in der er zu stottern anfing, verarbeitete er 1915 in dem Roman "Of Human Bondage" ("Der Menschen Hörigkeit"). Da lagen die bitteren Ereignisse schon zwanzig Jahre zurück.

Arzt und Autor

Somerset Maugham begann in Heidelberg Philosophie und Germanistik zu studieren. Doch bald zeigte sich, dass er sich damit nicht seinen Lebensunterhalt finanzieren konnte. So ging er nach London und absolvierte ein Medizinstudium. Praktiziert hat er in seinem Beruf aber nie, ihm reichte die mögliche ökonomische Absicherung. Stattdessen empfand er sich als heimlicher Schriftsteller, der aus dem medizinischen Wissen für seine literarische Tätigkeit schöpfte.

Maughams erster sozialkritischer Roman hieß "Liza of Lambeth" (1897), nach dem Londoner Armenviertel Lambeth. Rund ein Vierteljahrhundert später erschien der Roman in deutscher Übersetzung. Das Erstlingswerk löste einen Skandal aus, weil das Bürgertum es als unpassend fand, die Welt der Arbeiter derart naturalistisch darzustellen.

"Liza von Lambeth"

Die Handlung spielt im Arbeiterviertel in Lambeth, südlich von London. Die lebenslustige junge Fabrikarbeiterin Liza verliebt sich in einen älteren Familienvater. Liza wird schwanger, die Frau des Familienvaters stellt sie zur Rede und verprügelt sie. Im Kindbett sterben Mutter und Frühgeborenes.

Weit gereister Schriftsteller

Maugham war ein weit gereister Schriftsteller. Er lebte in Frankreich und in Spanien, in den USA und in der Schweiz, er reiste in den Fernen Osten und in die Südsee - und er brachte Geschichten mit, die sich zu Romanen verarbeiten ließen. Aus der Südsee brachte er die Legende um den verstorbenen Maler Paul Gauguin mit. "The Moon and Sixpence" ("Silbermond und Kupfermünze") hieß das Werk aus dem Jahr 1919.

Geheimagent im Dienste Seiner Majestät

Somerset Maugham arbeitete während des Ersten Weltkriegs für den britischen Geheimdienst. Diese Erlebnisse schrieb er 1928 in seinen Erzählungen "Ashenden oder der britische Geheimagent" nieder. Das Werk gilt als Vorläufer der modernen Spionageliteratur im Stile von Ian Flemings "James Bond" und John Le Carré.

Leseprobe:

Grau und trübe brach der Tag an. Die Wolken hingen schwer, und es war eine Rauheit in der Luft, die an Schnee gemahnte. Eine Hausangestellte trat in ein Zimmer, in dem ein Kind schlief, und zog die Vorhänge zurück. Sie warf einen mechanischen Blick auf das gegenüberliegende Haus, ein Stuckhaus mit einem Säulenportal, und trat an das Bett des Kindes.
"Wach auf, Philip", sagte sie. Sie schlug die Decke zurück, nahm ihn auf den Arm und trug ihn hinunter. Er war noch im Halbschlaf. "Deine Mutter lässt dich holen", sagte sie.
Sie öffnete die Tür eines im unteren Stockwerk gelegenen Zimmers und trug das Kind zu einem Bett, in dem eine Frau lag. Es war seine Mutter. Sie streckte die Arme aus, und der Knabe schmiegte sich zärtlich an sie. Er fragte nicht, warum man ihn geweckt hatte. Die Frau küsste seine Augen und
befühlte mit ihren mageren kleinen Händen seinen warmen Körper unter dem weißen Flanellnachthemd. Sie drückte ihn fester an sich.
"Bist du schläfrig, Liebling?" fragte sie.
Ihre Stimme war so schwach, als käme sie bereits aus großer Ferne. Das Kind antwortete nicht, aber lächelte wohlig. Es fühlte sich sehr glücklich in dem großen, warmen Bett, in der sanften Umarmung. Es versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, während es sich an seine Mutter kuschelte, und schlaftrunken küsste sie es. Dann schloss es die Augen und war im nächsten Augenblick fest eingeschlafen. Der Arzt trat näher und blieb neben dem Bett stehen.
"Ach, nehmen Sie ihn mir noch nicht weg", stöhnte sie.
Ohne zu antworten, sah sie der Arzt ernst an. Sie wusste, dass sie das Kind nun nicht mehr lange würde behalten dürfen, und küsste es abermals. Dann fuhr sie mit der Hand über seinen Körper, bis sie zu den Füßen kam; sie nahm den rechten Fuß in die Hand und belastete die fünf kleinen Zehen; dann ließ sie die Hand langsam über den linken gleiten. Sie schluchzte auf.
"Was haben Sie denn?" fragte der Arzt. "Sind Sie müde?"
Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, und Tränen rollten über ihre Wangen. Der Arzt beugte sich zu ihr nieder.
"Lassen Sie mich ihn nehmen."
Sie war zu schwach, um Widerstand zu leisten, und überließ ihm das Kind. Der Arzt übergab es dem Kindermädchen.

W. Somerset Maugham: "Der Menschen Hörigkeit". Übers. von Mimi Zoff, Susanne Feigl


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