Klassiker der Weltliteratur Arthur Schnitzler - "Leutnant Gustl"
Wien war seine Heimat und Urstoff seines Schreibens. Sigmund Freud war sein Freund. Mit der Akribie von Ärzten erforschten beide die Abgründe der Seele. Bei dem Nervenarzt entstand daraus die Psychoanalyse, bei Schnitzler ein Werk, das voller Witz und Schmerz von Liebe, Tod und Lebensleere erzählt.

Warum zum Beispiel der Erste Weltkrieg verloren ging, wussten einige sehr genau, hinterher: reine Nervensache. Nerven: Das war das neue Thema im Fin de Siècle und ein leidiges danach. Das Volk bestaunte Hypnosekünstler, die besseren Stände gruselten sich bei Séancen und auf der Seelencouch. Das Bild, das man sich von den geheimnisvollen Vorgängen im eigenen Inneren machte, war wie so oft der Welt der Technik entlehnt: der "Electricitaet". Durchflossen und durchleuchteten nicht die Nervenbahnen den menschlichen Geist wie - ab 1902 - Stromleitungen die Stadt Wien?
Ein Fachmann für Inneres und Tod
Der unaufhörliche, über weite Strecken untergründig verlaufende Strom der Gedanken - wie stellt man sowas zeitgemäß dar? Da braucht es schon einen, der als Arzt um das Wesen der Nerven weiß, als Weltmann und Wiener das Katz-und-Maus-Spiel von Trieb, Gefühl und bürgerlicher Moral kennt und als Künstler die Klaviatur der Sprache beherrscht: Arthur Schnitzler. Anfangs betätigt sich der 1862 geborene Sohn eines renommierten jüdischen Kehlkopf-Spezialisten als medizinischer Fachautor mit Spezialgebieten wie "Hypnose und Suggestion". 1892 wechselt er, inspiriert durch Freunde wie Hugo von Hofmannsthal und Sigmund Freud, spektakulär das Fach.
"Sterben" heißt seine erste Novelle, und genau darum geht es. Genauer: um einen jungen Mann, der erfährt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat, und um seine Liebste, die ihm verspricht, mit ihm aus dem Leben zu scheiden. Was der junge Mann zunächst heroisch zurückweist. Im Lauf der Zeit aber ...
Innerer Monolog: Was dem Gustl so durch den Kopf geht
Nicht so sehr der Stoff, mehr noch die unbarmherzige Präzision, mit der Schnitzler das Innenleben seiner Figuren behandelt, ist ein Schock. Noch mehr erschüttert die Wiener Gesellschaft eine weitere Novelle, "Leutnant Gustl", die einen nie zuvor so virtuos angewendeten Kunstgriff in die deutschsprachige Literatur einführt - den inneren Monolog. Kein Erzähler bringt uns das Geschehen nahe; der Leser wird angesaugt und mitgerissen vom Gedankenfluss des Helden. Ein sauberer Held: Von einem Bäckermeister insultiert, will sich Leutnant Gustl duellieren, was der Handwerker dem "dummen Bub" sehr handfest ausredet. In seiner Leutnantsehre verletzt, trägt sich Gustl eine Nacht lang mit Selbstmordgedanken. Doch der Morgen bringt eine andere, viel banalere Lösung seines Problems.
Sex, Schmäh und Schulterklappen
Eine Stütze der Gesellschaft als labiler Lackl, ein Offizier als ziemlich dummer August - nicht nur die in Teilen antisemitische Presse will dem Autor sowas nicht durchgehen lassen. In einem Schnellverfahren erkennt die Militärführung Schnitzler den Rang eines Reserveoffiziers ab, den er als Militärarzt erworben hat.
Es ist nicht der einzige Skandal, den der Autor mit seiner Lust am Konventionsbruch provoziert. Seine Komödie "Reigen", eine Art erotischer Staffettenlauf in zehn Szenen - oder auch: Akten - löste in Wien und Berlin Saalschlachten aus und erlebte einige Jahre lang mehr Aufführungen vor Gericht als auf der Bühne.
Schnitzler zieht das Stück zurück, bleibt als Prosa- und Theaterautor aber immer produktiv, schafft großartige, an Tschechow erinnernde Stücke wie "Der einsame Weg" und "Das weite Land" und Prosa wie die "Traumnovelle", die Stanley Kubrick 1999 unter dem Titel "Eyes Wide Shut" verfilmt. Am Ende greifen die Anfeindungen vieler Zeitgenossen und der Selbstmord seiner Tochter auch sein Nervenkostüm an. Am 21. Oktober 1931 stirbt Schnitzler an einer Hirnblutung.
"Leutnant Gustl" denkt ans Sterben:
"Ah, lieber gleich eine Kugel vor den Kopf, als so was!... Wär' so das Gescheiteste!... Das Gescheiteste? Das Gescheiteste? - Gibt ja überhaupt nichts anderes... gibt nichts anderes... Wenn ich den Oberst fragen möcht', oder den Kopetzky - oder den Blany - oder den Friedmaier: - jeder möcht' sagen: Es bleibt dir nichts anderes übrig!...
(...)
Wieviel schlagt's denn?... 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11... elf, elf... ich sollt' doch nachtmahlen geh'n! Irgendwo muß ich doch schließlich hingeh'n... ich könnt' mich ja in irgendein Beisl setzen, wo mich kein Mensch kennt - schließlich, essen muß der Mensch, auch wenn er sich nachher gleich totschießt... Haha, der Tod ist ja kein Kinderspiel... wer hat das nur neulich gesagt?... Aber das ist ja ganz egal."
Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl (Novelle, 1902)