ARD alpha - Dokumentarspiele


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Europas letzter Sommer Historischer Hintergrund

Stand: 23.05.2012 | Archiv

Der Frieden in Europa in der ersten Hälfte des Jahres 1914 ist ein trügerischer. Deutschland ist seit der Reichsgründung 1871 in beispielloser Schnelle zur Großmacht aufgestiegen. Die alten imperialen Mächte in Europa fühlen sich bedroht. Die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist ungebrochen. Als der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet wird, sorgt dies jedoch zunächst nicht für sonderliche Aufregung, denn Franz Ferdinand war sogar im eigenen Land nicht sehr beliebt.

Außerdem befinden sich die meisten Machtträger in Europa gerade im Urlaub oder auf Kur. Niemand glaubt zu diesem Zeitpunkt, dass diese Tat einen Weltenbrand auslösen könnte. Das politisch motivierte Attentat auf den ungeliebten Thronfolger scheint lediglich ein Teil des "lokalen" Balkankonflikts zu sein, die großen politischen Konfliktlinien in Europa scheinen davon nicht berührt zu sein. In defensiven Militärbündnissen stehen sich England, Frankreich und Russland auf der einen Seite und Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite gegenüber.

Doch der Konflikt nimmt schnell größere Dimensionen an. 1912 hatte die österreichisch-ungarische Monarchie Bosnien-Herzegowina besetzt, worauf das benachbarte Serbien mit der Bildung des "Balkanbundes" reagiert, einem internationalen, defensiven Militärbündnis unter der Patronage des russischen Kaiserreichs. Nun fürchtete sich Österreich-Ungarn vor den aufstrebenden Nationalbewegungen auf dem Balkan.

Als nach dem Attentat in Sarajewo eine vage Verbindung des Täters zur serbischen Geheimorganisation "Schwarze Hand" bekannt wird, nimmt man dies in der Doppelmonarchie zum Anlass, an Serbien ein Exempel zu statuieren. Der serbischen Regierung wird vorgeworfen, vom Attentat gewusst zu haben.

Die Kriegsdrohung wird auch vom Deutschen Reich forciert, das mit der österreichisch-ungarischen Monarchie verbündet ist. In Deutschland ist man - gestärkt durch militärische Aufrüstung und wirtschaftlichen Aufschwung - bereit, bei einer möglichen internationalen Eskalation des Streits sogar gegen das mächtige Russland in den Krieg zu ziehen, das bei einem Angriff auf Serbien zweifellos aktiv werden würde. Auf deutscher Seite nehmen dieses Risiko nicht nur der oberste Militär, General Moltke, und der Kriegsminister Falkenhayn, sondern auch Kaiser Wilhelm II., Reichskanzler Bethmann Hollweg und sein Berater Kurt Riezler in Kauf.

Doch nicht nur gegen Russland möchte man losschlagen. Da das russische Zarenreich mit Frankreich verbündet ist, das im Falle einer Eskalation voraussichtlich das Deutsche Reich ebenfalls attackieren würde, kalkulierte die überhebliche deutsche Führung auch mit einem schnellen Präventivschlag gegen den französischen Nachbarn. Frankreich ist aber auch mit England verbündet, der damals stärksten Weltmacht.

Aufgrund dieser komplexen internationalen Verbindungen entwickelt sich aus dem lokalen Balkankonflikt innerhalb weniger Wochen ein kontinentaler, später sogar ein weltweiter Krieg: der Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts".


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