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Kulturelle Vielfalt und Identität Jüdische Studierende machen sich stark für Andere

Tikkun olam – verbessere die Welt ist eines der wichtigsten Gebote im Judentum und eine Art Essenz des "Jüdischsein". Viele junge Juden folgen der Pflicht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, egal wie religiös sie sind. Auch Anna, Ben und Naomi engagieren sich für Andere, neben ihrem Studium. Die Erinnerungskultur zu fördern, ist ihnen besonders wichtig.

Author: Barbara Weber

Published at: 20-1-2021

Engagement für kulturelle Vielfalt: Jüdische Studierende machen sich stark für Andere

Anna

Anna schreibt gerade ihre Bachelor-Arbeit an der TU München in Biochemie über Krebsforschung. Die Mannheimerin hat schnell Anschluss gefunden in der Stadt durch die jüdische Gemeinde.

"Speziell in der jüdischen Community finde ich es super wichtig, sich zu engagieren, damit die Minderheit ein bisschen zusammenwächst und überhaupt in dieser christlichen Mehrheitsgesellschaft so eine jüdische Identität bilden kann."

Anna

Hilfskampagne statt Party

Bis vor kurzem war Anna im Vorstand des Verbands jüdischer Studenten in Bayern, der junges jüdisches Leben fördern und vernetzen will. Statt einer großen Purim Party im Februar 2020 - die wegen Corona ausfiel - startete der VJSB eine Hilfsaktion für bedürftige Senioren*innen, die als sog. „Risikogruppe“ im Corona-Lockdown völlig abgeschnitten waren. Auch Anna ist vor der Uni einkaufen gegangen, hat Rezepte und Medikamente geholt und vor den Türen älterer Menschen hinterlegt.

"In schwere Zeiten nicht nur an sich selbst denken, sondern fragen: Was kann ich für andere Menschen tun, um meinen kleinen Beitrag zu leisten? Es war schön zu sehen, dass für viele Senioren die wöchentlichen Telefonate das Highlight des Tages waren. Sie haben zu mir gesagt, bitte gib mir die Nummer von deinen Eltern, ich will denen sagen, dass sie so ein tolles Kind haben."

Anna

Keshet München

Freitags ist Anna meist die einzige Frau beim Gebet zum Shabbat in der Synagoge. Sie hat kein Problem damit und doch wünscht sie sich, dass die Münchner Gemeinde offener und bunter wird. Als emanzipierte Jüdin setzt sie sich auch für die Rechte jüdischer LGBTQI* ein und hat im Dezember 2020 die Regionalgruppe München von Keshet Deutschland gegründet, um innerhalb der jüdischen Community eine Modernisierung voranzutreiben.

"Wenn ein (schwuler) Sohn in der jüdischen Community sagt, Mama, Papa, ich hab‘ einen Freund und dann als erstes die Frage kommt und, ist er jüdisch? Dann sind wir am Ziel angekommen."

Anna

Ben

"Ich sage ganz offen, ich bin nicht religiös in dem Sinne, dass ich immer mit Kippa und solchen Sachen herumgehe. Man erkennt nicht gleich, dass ich Jude bin, die Meisten denken, dass ich muslimisch bin."

Ben

Ben ist kein Muslim, sondern orientalischer Jude aus Israel. Er hat sich vor gut zwei Jahren ganz bewusst für ein Studium in Deutschland entschieden. Maschinenbau an der TU München - gute Lehre, schöne Stadt. Einfach war es nicht, ohne ein Wort Deutsch hier anzukommen.

"Das war sehr spannend, dieser Sprachkurs hier in Deutschland. Es gab dort Menschen aus aller Welt, auch viele muslimische Leute. Auch Israelis und zum Beispiel syrische Leute – normalerweise würde das nie zusammenklappen, aber es hat sogar super gut geklappt."

Ben

Interreligiöse Alltagbegegnungen als Weg der Verständigung, eine Initialzündung für Ben. Er lernt schnell Deutsch, auch komplizierte technische Fachbegriffe und bewirbt sich für ein Stipendium beim jüdischen Studienwerk Ernst Ludwig Ehrlich (ELES). Dort engagiert er sich bei den Dialogperspektiven, eine europäische Plattform, in der Studierende aller europäischen Länder und Religionen zusammenkommen. Aus Vorurteilen und Unterschieden werden Freundschaften und Gemeinsamkeiten.

"Ich bin der einzige Israeli da, also in diesem Jahr. Dann denken sie immer o.k. Israeli, sie haben viele Vorurteile und dann lernen sie mich kennen und sind überrascht. Du bist der erste Israeli, den ich kennengelernt hab und alles ist o.k., du bist nicht der Teufel. Es geht darum, sich kennenzulernen."

Ben

Schon in Israel engagierte sich Ben für Holocaust-Überlebende, seine Familie sephardischen Ursprungs hat keine Opfer zu beklagen und doch ist es ihm eine Herzensangelegenheit. Als er nach München kam, suchte er sofort Kontakt zum Café Zelig, ein Treffpunkt für hochbetagte Überlebende der Shoa.

"Bald wird es zu einem Punkt kommen, wo sie nicht mehr da sind und alle, die Holocaust leugnen, werden kommen und sagen, zeigt mir jemanden, der da war und mir sagen kann, dass es ist wirklich passiert ist."

Ben

Naomi

Nach der jüdischen Grundschule und ihrem Engagement in der zionistischen Jugend nimmt Naomis Kontakt zur jüdischen Community auf dem Weg zum Abitur und ins Studium ab. Die ersten beiden Jahre im Medizinstudium sind so arbeitsintensiv, dass kaum Zeit bleibt für die Familie, an ein Ehrenamt ist gar nicht zu denken.

"Man ist später mal als Ärztin, als Arzt Botschafter für Gesundheit, muss das irgendwie anderen Leuten sagen, wie sie sich richtig verhalten sollen. Das erwartet man von einem und deswegen ist es eigentlich super paradox, dass im Medizinstudium so viele Leute psychische Erkrankungen entwickeln, dass viele Leute einfach nicht mehr mit dem Studium zurechtkommen."

Naomi, Medizinstudentin an der Uni Regensburg

Nach dem Physikum gründet Naomi mit Kommilitonen*innen die Arbeitsgruppe "Pass auf dich auf!" in der Fachschaft Humanmedizin in Regensburg. Die neuen Erstsemester sollen einen besseren Einstieg ins Studium bekommen, mit Hilfe der Älteren.

"Man gibt nicht nur viel, sondern man bekommt auch viel zurück. Ich bin ganz glücklich, wenn ich sehe, dass ich durch die Arbeit, die ich mache, anderen helfen kann, stressige Situationen zu vermeiden, die man selbst schon hatte."

Naomi

Auch Naomi ist seit 2020 Stipendiatin beim jüdischen Studienwerk ELES und beobachtet mit großer Sorge wachsenden Antisemitismus und Geschichtsverzerrung im Kontext der Demonstrationen gegen die Corona Maßnahmen der Regierung. Sie will sich künftig in der Initiative „Nie wieder!“ engagieren.

"Dann kam diese Zeit, wo die ganzen Vergleiche auf diesen Demos mit Sophie Scholl und Anne Frank aufkamen. Ich dachte, es ist jetzt so wichtig, dass es so eine Initiative wie 'Nie wieder!' gibt. Gerade in solchen Zeiten, wo es in Mode kommt, sich mit schiefen Vergleichen mit der NS-Zeit von der Polizei geschützt auf die Bühne zu stellen und das sagen zu können, ist die Arbeit von 'Nie wieder!' gesellschaftlich und politisch von großer Bedeutung."

Naomi

Blick in den Lebenslauf von Anna, Ben und Naomi

Anna

Anna studiert Biochemie und schreibt nach einem Studienjahr an der Universität Berkeley, USA, gerade ihre Bachelorarbeit auf dem Gebiet der Krebsforschung. Freitags ist sie oft die einzige Frau beim Gebet zum Shabbat in der Synagoge in München. Sie hat kein Problem damit und doch wünscht sie sich, dass die Münchner Gemeinde offener und bunter wird. Als emanzipierte Jüdin setzt sie sich für die Rechte jüdischer LGBTQI* ein und hat im Dezember 2020 die Regionalgruppe München von Keshet Deutschland gegründet, um innerhalb der jüdischen Community eine Modernisierung voranzutreiben.

Ben

Ben kommt aus Israel und studiert Maschinenbau an der TU München. Nebenbei engagiert er sich im Café Zelig, einem Treffpunkt für Holocaust-Überlebende in München. Da es derzeit wegen Corona geschlossen ist, kocht Ben einmal im Monat in seiner WG für die Hochbetagten. Er will die Geschichten und Erinnerungen der letzten Zeitzeugen hören und bewahren, damit niemand später die Shoa leugnen kann. Als Stipendiat des Ludwig Ehrlich Studienwerkes für jüdische Studierende (ELES) ist er auch aktiv bei der Initiative Dialogperspektiven. Eine europaweite interreligiöse Plattform, in der Studierende aller europäischen Länder und Religionen zusammenkommen.

Naomi

Auch Naomi ist Stipendiatin bei ELES und engagiert sich dort in der Initiative "Nie wieder!?". Mit großer Sorge beobachtet sie, wie in der Corona Krise plötzlich wieder anti-jüdische Ressentiments und schiefe Geschichtsvergleiche auftauchen – wehret den Anfängen. Wie hart der Weg bis zum Physikum ist, hat Naomi am eigenen Leib erfahren, viele Mitstudenten*innen sind in Depressionen und Burnout gerutscht. "Pass auf dich auf!" heißt die Arbeitsgruppe der Fachschaft Humanmedizin an der Uni Regensburg, die Naomi mitgegründet hat. Sie hilft beim Studienstart, bei Prüfungen und mit einem Fitnessprogramm gegen den Corona-Blues.


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