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Der Drang zur Perfektion Studieren unter Leistungsstress

Stets gute Noten schreiben und dabei möglichst die Regelstudienzeit einhalten – seit dem verschulten Bologna-Prozess leiden viele Studierende verstärkt unter Leistungsdruck. Wer sich dabei mit übersteigerten Erwartungen zusätzlich unter Druck setzt, kann langfristig seiner Psyche schaden. Welche Wege aus der Leistungsfalle führen, warum Stopp sagen beim Lernen manchmal effektiver ist, weshalb Fehler zu machen, sogar wichtig ist und warum Perfektionist*innen sich mit beidem schwertun, erfahren wir von Studentin Giulia und Psychotherapeut Tom Schindler.

Von: Anna-Louise Bath

Stand: 04.12.2020

Perfektionismus im Studium

Höher, schneller, weiter – der Rausch der Superlative ist omnipräsent. Im Informationszeitalter ist es fast unmöglich, sich nicht am Vorbild idealer Leistungsmenschen zu orientieren und zu messen. Das beginnt nicht erst im Studium, tritt aber häufig während der Ausbildungszeit zu Tage, wenn man unter Leistungsdruck steht, in kurzen Intervallen lernen muss und sich der Lernerfolg um die Creditpoints dreht. Menschen gehen mit hohen Anforderungen unterschiedlich um, aber wer perfektionistisch veranlagt ist, tut sich damit besonders schwer. Herausforderungen können so zu großen Hindernissen werden und sogar zu Burn-Out führen.

Studentin Giulia, 25, die in München lebt und in Innsbruck Psychologie im Master studiert, hat die ersten Symptome bei sich entdeckt:

"Also ich merke, dass ich mich übernommen habe, wenn ich müde werde, wenn ich mich zurückziehe. Normalerweise bin ich auch ein sehr fröhlicher Mensch, und da merke ich dann, dass meine Stimmung schon eher neutral bis negativ ist."

Giulia

In ihrem Psychologie-Studium hat Julia die letzten Jahre über bis zu zehn oder zwölf Stunden am Tag mit Lernen verbracht. Für ihre Hobbies oder Sport und lange Gespräche mit Freunden blieb daneben oft weder Energie noch Zeit übrig.

Tom Schindler, 49, ganzheitlicher Psychotherapeut und Gründer von „Studentencoaching-München“, hat Erfahrung mit Klienten, die körperliche Anzeichen starker Erschöpfung bei sich selbst konstant übersehen. 

"Im schlimmsten Fall kommt es dann, wenn man nichts dagegen macht, also nicht gegensteuert, auch zu depressiven Verstimmungen. Der soziale Rückzug nimmt weiter zu und die Stimmung fällt noch mehr in den Boden. Und irgendwann ist eine Grenze erreicht, wo dann gar nichts mehr geht."

(Tom Schindler, Psychotherapeut)

Seit Einführung des Bologna-Prozesses hat der subjektive Leistungsdruck auf Studierende in vielen Fächern deutlich zugenommen. Perfektionistisch veranlagte Menschen sind dadurch verstärkt gefährdet, sich selbst zu viel abzuverlangen und in eine psychische Abwärtsspirale zu gelangen. Von sich selbst enttäuscht, weil der überforderte Körper die benötigten Erholungsphasen erzwingt, erhöhen Perfektionisten ihr Pensum nur noch mehr, und landen hierdurch in einem Teufelskreis. Spätestens dann sind sie auf die Hilfe durch einen Therapeuten angewiesen.

Therapeutische Hilfe

Im gemeinsamen Gespräch erforschen Therapeuten die Ursachen, die oft tief verwurzelt und dem Betroffenen in der Regel zunächst unbewusst sind. Wenn der eigene Selbstwert zu stark von äußeren Umständen wie Erfolgen im Studium oder Beruf abhängig gemacht wird, können Betroffene schon durch geringfügige Vorkommnisse stark verunsichert werden. Gegen die damit verbundenen unangenehmen Gefühle versuchen sie dann, sich durch Perfektion abzusichern: etwa durch die vermeintlich „perfekte“ Vorbereitung auf Klausuren mit fast ununterbrochenem Lernen bis spät in die Nacht hinein. Dabei wäre ausreichend Schlaf oft hilfreicher für den Prüfungserfolg. Die Arbeitsmethoden von Perfektionisten sind oftmals auch gar nicht wirklich effektiv:

"Die Arbeit dauert doppelt, dreifach, vierfach, fünfmal so lang, weil sie eben nicht aufhören können, bevor es perfekt ist. Ein Riesenproblem. Und spätestens dann, wenn es um Terminabgaben geht, kommen Perfektionisten in Teufels Küche, weil sie es im Rahmen der vorgegebenen Zeit einfach nicht schaffen."

(Tom Schindler)

Tom Schindler arbeitet nicht nur mit Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie, sondern auch und mit Achtsamkeitsübungen und Meditation. Er hat lange in buddhistischen Ländern gelebt und bei fernöstlichen Meistern gelernt und kombiniert in seiner Praxis westliche Psychologie mit traditioneller, asiatischer Spiritualität.

In einer geführten Meditation leitet er Studentin Giulia an, für einen Moment Abstand zu schaffen zu den normalerweise automatisch ablaufenden Gedanken und Gefühlen ihres Alltagsbewusstseins. Und stattdessen ihre Wahrnehmung zu schulen für den eigenen Körper und das, was im Moment um sie herum geschieht.

Ein Mensch hat durchschnittlich zwischen 60.000 bis 80.000 Gedanken an einem Tag, die ihn konstant beschäftigen und dadurch seine Selbstwahrnehmung einschränken. Der Großteil davon ist ihm gar nicht bewusst. Um tiefliegende psychische Konflikte aufzudecken und zu lösen, geht es also in erster Linie um Bewusstwerdung:

"Durch regelmäßige Übung ist es uns möglich, uns von negativen Denkmustern und Glaubenssätzen, Gefühlen und Verhaltensmustern zu lösen und zu desidentifizieren, anstatt ihnen weiterhin 'blind', also unbewusst, zu folgen!"

(Tom Schindler)

Studieren in der Corona Zeit - verstärkte Herausforderung für Perfektionisten 

Nicht zuletzt auch die Corona-Krise beziehungsweise die Maßnahmen Lockdown und Shutdown, die die Studierenden stark sozial einschränken, erhöht sich die Gefahr, in die Perfektionismus-Falle zu tappen, enorm. Denn die soziale Isolation verstärkt die destruktiven Verhaltensweisen der Betroffenen.

Umso wichtiger ist es, auch in Corona-Zeiten soziale Kontakte zu pflegen, wenn auch unter Hygieneauflagen oder beschränkt auf digitale Wege. Und sich therapeutische Hilfe zu holen, wenn man unter wiederkehrender, psychischer Belastung leidet. Vielerorts haben die psychosozialen Beratungsstellen für Studierende ihre Kapazitäten erweitert, um dem seit Corona erhöhten Bedarf entgegenzukommen.

Seit Giulia bewusstgeworden ist, wie sehr ihr Wohlbefinden davon abhängt, dass sie sich neben dem Lernen auch ausreichend Zeit für sich selbst, für Sport und für ihre Freunde nimmt, fällt vor allem ihren Mitmenschen auf, wie sehr sie sich verändert hat. Im Vergleich zu vorher sprudle sie nun vor Energie nur so über und sei richtig aufgeblüht, finden sie.


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