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Psychologie Ihnen wird alles zu viel? Das können Sie tun!

Familie, Job, pflegebedürftige Angehörige, soziales Engagement, Sorge wegen des Ukrainekrieges, Corona - es gibt viele Gründe, warum sich Menschen überfordert fühlen können. Doch wie kann ich erkennen, dass mir alles zu viel wird? Was kann ich tun, wenn mir alles über den Kopf wächst und wie kann ich im Alltag einer Überforderung vorbeugen? Tipps von Familientherapeutin Birgit Salewski.

Stand: 16.05.2022

Mann schlägt seine Hände vor sein Gesicht | Bild: BR/Julia Müller

Birgit Salewski: "Die Schlagzahl, mit der wir uns gerade alle immer wieder an neue Herausforderungen anpassen müssen, ist gefühlt höher denn je. Neben den allgemeinen und den individuellen Herausforderungen des Lebens hat uns nun über zwei Jahre eine Pandemie beschäftigt. Für viele Menschen war die Lebenssituation schon vor der Pandemie belastend und an der Grenze des Machbaren. Die Pandemie hat vor allem Familien und Menschen in den Gesundheitsberufen schlicht überfordert und für uns alle immense Einschnitte in unserem Leben, in unseren Routinen, in unseren Beziehungsgefügen und unserem Arbeitsleben bedeutet.
Aktuell belastet uns zudem die Tatsache, dass es erneut kriegerische Auseinandersetzungen in Europa gibt und friedliche Lösungen fern zu sein scheinen. Diese Gemengelage ist schlicht viel und davon überfordert zu sein, oder das Gefühl zu haben, dass uns die Kräfte ausgehen, ist momentan ein verbreitetes Phänomen. Ich würde sagen, das ist menschlich und nachvollziehbar."

Doch was können wir tun, wenn das alles zu viel wird und wir das Gefühl haben, bestimmte Dinge oder sogar den Alltag nicht mehr bewältigen zu können, weil wir uns schlichtweg überfordert fühlen? Dann sollten Sie unbedingt handeln, denn eine dauerhafte Überforderung kann nicht nur zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schlafstörungen, sondern auch zu anderen Krankheiten, wie Arterienverkalkung oder Magen-Darm-Erkrankungen führen.

Woran erkenne ich, dass mich die aktuelle Situation in der Welt und im Privaten überfordert?

Birgit Salewski: "Hellhörig sollten Sie werden, wenn negative Gefühle, Sorgen und Ängste die Oberhand gewinnen. Natürlich sind individuelle Lebenssituationen gerade sehr belastet und Sorgen und Ängste daher verständlich. Sie sollten aber nicht Ihren Alltag in allen Bereichen bestimmen. Solange Sie noch in einigen Bereichen Freude und Hoffnung empfinden und sich dafür auch Zeit nehmen können, ist das gut.  

Viele Menschen neigen jedoch dazu, den Problemen und Sorgen der Welt zu viel emotionalen Raum zu geben. Wer täglich mehrmals Nachrichten konsumiert, kein anderes Gesprächsthema mehr als die Pandemie und den Krieg kennt und darüber hinaus vielleicht sogar Vorbereitungen für den Ernstfall ergreift, hat möglicherweise zu viel Angst und Sorgen, welche wiederum einen strukturierten, gefestigten, leichteren Alltag erschweren. Wer nur das Drama und das Chaos sieht, wird sich auch so fühlen und seinen Alltag danach ausrichten. Das führt in eine Abwärtsspirale.

Anzeichen für eine Überforderung sind eine zunehmende Gereiztheit und Ungeduld, schwarz-weiß-Denken, Schlaflosigkeit und Gedankenkreisen, so dass Sie innerlich ein Thema durch die eigenen Gedanken ständig aufgezwungen bekommen. Weitere Alarmzeichen sind Müdigkeit und Erschöpfung, die zum sozialen Rückzug und zur Aufgabe vieler Hobbys und Freundschaften führen.
Einige reagieren auch mit einer völligen Überdrehtheit und Aggressivität angesichts des gefühlt nicht mehr enden wollenden ´Ausnahmezustands´.
In beiden Fällen fehlt die Selbstregulation, sowohl im Sinne von Erholen und Auftanken, als auch im Sinne von Ausgleich finden und zur Ruhe kommen."

Was kann ich derzeit tun, wenn ich mich insgesamt überfordert fühle, wenn mir einfach alles zu viel wird?

Birgit Salewski: "Ein wichtiger Punkt ist, den Alltag neu zu priorisieren: Was ist wirklich wichtig in Ihrem Leben? Was ist wirklich wichtig zu erledigen? Wenn wir gestresst sind, verlieren wir schnell den Überblick, alles wirkt zu viel und zu anstrengend und gleichzeitig wichtig und drängend.

Stehen wir zu sehr unter Druck, können wir jedoch oft nicht mehr priorisieren und brauchen dazu externe Hilfe. Dann ist der nächste Schritt, den Kalender auszumisten, unwichtige Termine zu streichen, Zeit für Freunde, Familie, Hobbys, Freizeit sowie für das bloße Nichts-Tun einzuräumen.

Bleiben wichtige Dinge unerledigt und ist die Bewältigung des Alltags einfach zu viel, dann suchen Sie nach Hilfe: Bitten Sie Angehörige, Freunde, Nachbarn aktiv um Unterstützung.

Sprechen sie darüber, wenn Sie Ihre Prioritäten verändern. Niemand muss sich rechtfertigen oder schämen, wenn er dies tut, es ist vielmehr ein Zeichen von Anpassungsfähigkeit.

Und reduzieren Sie die Flut von schlechten Nachrichten. Um derzeit informiert zu bleiben, reicht es, täglich einmal die Nachrichten zu hören oder zu lesen. Auch für Erwachsene sind die Bilder oft zu viel.

In Gesprächen mit der Familie, Freunden und Kollegen dürfen Sie sich von den ewigen Wiederholungsspiralen distanzieren und bewusst andere Gesprächsthemen wählen.

Sorgen Sie bewusst für Ausgleich, Ablenkung und leichte, freudige Momente. Feiern Sie Geburtstage und (religiöse) Feste, spielen Sie mit der ganzen Familie Spiele, machen Sie kleine Ausflüge, schauen Sie Filme und Serien, die Ihnen guttun, hören Sie Musik und gehen Sie Ihren Hobbys nach. Pflegen Sie soziale Kontakte und zeigen Sie auch anderen Menschen, dass Sie an sie denken und, dass sie Ihnen wichtig sind. Backen Sie beispielsweise einen Kuchen und verschenken ein Stück davon an liebe Nachbarn.

Beteiligen Sie sich an Gemeinschaftsaktionen wie Vereinstreffen, Kirchenveranstaltungen, Lichterketten, Einladungen oder einer Stadtführung."

Wann sollte ich mir professionelle Hilfe suchen?

Birgit Salewski: "Das ist bei anhaltenden Symptomen wie Schlafstörungen, Grübeln, Freudlosigkeit, sozialem Rückzug, Gereiztheit, Müdigkeit, Erschöpfung, Appetitverlust, Ängsten und Sorgen, Konzentrationsproblemen und natürlich körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Herz-Kreislauf- und Hörproblemen angezeigt. Oft reicht der Besuch beim Hausarzt, hier müssen Sie nur ein bisschen ehrlich sein."

Wie kann ich helfen, wenn ich das Gefühl habe, eine nahestehende Person fühlt sich überfordert?

Birgit Salewski: "Hier ist es wichtig, die eigene Wahrnehmung anzubieten, aber weder zu werten, noch Vorwürfe zu machen. Fragen Sie die betreffende Person direkt: ´Wie geht es dir gerade? Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?´
Aber geben Sie bitte keine vorschnellen Ratschläge und Tipps, wenn Sie nicht darum gebeten werden, denn das erhöht nur den Stress der betreffenden Person nach dem Motto: Andere wissen besser wie es geht, ich schaffe es also wirklich nicht.

Wenn jemand keine Hilfe möchte, signalisieren Sie wohlwollend, dass Sie da sind. Senden Sie hier und da einen kleinen Gruß oder ein kleines Geschenk, ohne zu aufdringlich zu sein. Wir alle brauchen Menschen in unserem Umfeld, die liebevoll und zugewandt an uns denken, uns nicht verurteilen für das, was alles gerade zu viel ist und die wir an unserer Seite spüren, auch wenn eigentlich kaum Zeit zur Kontaktpflege bleibt."

Kann ich irgendwie vorbeugen, dass es gar nicht erst zu einer Überforderung kommt?

Birgit Salewski: "Ich empfehle die bereits erwähnte Priorisierung regelmäßig zu machen: Stimmen meine Lebensziele noch? Hat sich etwas verändert? Was ist in meinem Leben zu viel, zu wenig? Was ist mir abhandengekommen, was ist mir einfach zu viel geworden?

Räumen Sie in Ihrem Kalender bewusst Freiräume für Freizeit, Erholung, Hobbys, Urlaube und Geburtstage ein, dann haben Sie schon gut vorgesorgt. Das empfehle ich auch für den Arbeitskalender: Lassen Sie immer Platz für unvorhergesehenen Dinge, sie passieren ohnehin, das wissen wir.

Seien Sie ehrlich zu sich und Ihrem Energielevel: Das Wochenende nur als Regeneration für die Woche zu brauchen ist ungesund. Sie sollten am Wochenende auch noch Energie für die schönen Dinge des Lebens übrighaben und diese auch umsetzen können.

Wir alle sollten uns viel öfter die Fragen stellen: Wo tanke ich wieder Energie? Wo komme ich in Balance und auch mal zur Ruhe? Was macht mich zufrieden und froh?

Wir alle müssen aufhören, uns dafür zu schämen, wenn es gerade nicht so rund läuft oder alles zu viel ist. Viele Menschen bekommen suggeriert, das läge an ihrem Versagen. Diese Perspektive ist für Veränderung und Verbesserung nicht hilfreich."


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