Literatur Neuerscheinungen von der Leipziger Buchmesse
Wer auf der Suche nach druckfrischen Buchtipps ist, der bekommt jetzt von Buchhändlerin Sabine Abel tolle Tipps. Sie hat sich für Sie zur Leipziger Buchmesse aufgemacht und besonders lesenswerte Neuerscheinungen aufgestöbert. Da darf natürlich auch ein Roman aus dem Gastgeberland Norwegen nicht fehlen.

Volker Klüpfel: Wenn Ende gut, dann alles
Viele kennen Volker Klüpfel sicher von seinen Allgäu-Krimis, die er mit seinem Kollegen Michael Kobr rund um Kommissar Kluftinger geschrieben hat. Jetzt veröffentlicht Volker Klüpfel solo eine neue Krimireihe rund um die energische ukrainische Putzfrau Svetlana und den bisher eher erfolglosen Schriftsteller Tommi Mann.
Tommi wäre so gerne ein erfolgreicher Bestsellerautor, deshalb schreibt er wie besessen an einem Thriller. Leider bleibt der herbeigesehnte Erfolg aber aus, weswegen er in einem Wohnmobil haust, das seinem Vater gehört. Der weiß um das sehr chaotische Wesen seines Sohnes und hat deshalb Svetlana engagiert, eine Ukrainerin, die in Tommis Wohnmobil für Ordnung und Sauberkeit sorgen soll.
Die Geschichte beginnt, als Tommi Svetlana nach getaner Arbeit nach Hause fährt und die beiden vom Auto aus ein kleines Mädchen ganz alleine am Straßenrand entdecken. Das Mädchen hat nichts dabei außer einem Rucksack. Auf dem ist ein Zettel befestigt. "Hilf mir" ist darauf zu lesen.
Sie bringen das verängstigte Kind zur Polizei. Dort stellt sich nach einigen Schwierigkeiten heraus, dass das Mädchen, genau wie Svetlana, aus der Ukraine stammt. Der Rest seiner Identität bleibt ein Rätsel. Für Tommi ist alles weitere nun Behördensache, er muss sich schließlich um seinen Roman kümmern. Ganz anders sieht die Sache aber für Svetlana aus. Sie will herausfinden, was mit dem Mädchen, das sie Leni nennen, geschehen ist. Und wo steckt die Mutter des Kindes? Schnell werden Svetlanas Nachforschungen für sie und auch für Tommi, den sie natürlich dauernd in ihre Recherche miteinbezieht, richtig gefährlich. Ihre waghalsige und meist sehr unkonventionelle Suche nach Lenis Mutter bringt die beiden Hobbydetektive auf die Spur eines ungeheuerlichen Verbrechens.
"Dieser Krimi besticht zum einen durch seine Spannung und die Bezüge zu aktuellen Ereignissen. Zum anderen durch die sehr sympathischen Figuren, besonders Svetlana ist mir ans Herz gewachsen. Das gilt aber auch für die Nebenfiguren, zum Beispiel eine Seniorengruppe, die andauernd Rommé spielt und dabei wunderbar absurde Gespräche führt, oder die Kommissarin, die in dem Fall offiziell ermittelt. Eine gelungene Mischung aus Spannung, Situationskomik und manchmal schwarzem Humor. Hoffentlich gibt es davon bald eine Fortsetzung."
Sabine Abel
Maja Lunde: Für Immer
Maja Lunde ist derzeit eine der erfolgreichsten Autorinnen aus Norwegen. Mit ihrem Buch "Die Geschichte der Bienen" erreichte sie weltweit ein Millionenpublikum. Jetzt dürfen wir ihren neuesten Roman lesen, in dem Maja Lunde ein nicht ganz unbekanntes Gedankenexperiment macht: Was wäre, wenn plötzlich die Zeit stillstünde?
Genau das passiert in diesem Buch an einem gewöhnlichen Tag Anfang Juni. Die Zeit bleibt Stehen. Niemand stirbt, niemand wird geboren, alles steht still. Anhand von verschiedenen Figuren in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen werden die Leserinnen und Leser mit dieser Situation konfrontiert.
Da ist zum Beispiel die Fotografin Jenny, die nur knapp einem Autounfall entgeht und wenig später eine fatale Diagnose erhält. Für sie zählt jeder Tag, den sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern geschenkt bekommt. Sie genießt jeden Moment mit ihrer Familie im Sommerhaus. Oder verpasst sie doch etwas ganz Entscheidendes?
Oder Otto und Margo, ein Rentnerehepaar. Sie sind auf Margos Drängen hin gerade dabei, ihr Haus, in dem sie Jahrzehnte zusammen gelebt haben und in dem ihre Kinder aufgewachsen sind, zu verkaufen. Otto will eigentlich nicht weg. Er liebt das Haus und die Gartenarbeit. Margo will in eine kleinere Wohnung ziehen, ohne die Last eines eigenen Hauses und die damit verbundenen Verpflichtungen. Sie haben ganz unterschiedliche Auffassungen davon, was man mit der gewonnenen Lebenszeit anfangen sollte. Margo möchte reisen und das Leben feiern, Otto hat aber Angst um seine geliebten Blumen.
Das Buch handelt auch von Jakob, der mit seiner Freundin Lisa ein Kind erwartet. Was passiert mit dem ungeborenen Baby? Eine Frage, die sich auch eine jetzt arbeitslose Hebamme stellen muss, und für die Bestatterin Ellen ist ebenfalls unklar, wie es weitergehen soll.
Niemand weiß, warum die Menschheit aus dem Lauf der Zeit gefallen ist. Schnell kursieren wilde Theorien von Viren oder bösen Mächten. Die Natur ringsum scheint von dem Stillstand, der über die Menschheit hereingebrochen ist, nicht betroffen. Hier geht alles seinen gewohnten Gang.
"Dieses Buch liest sich so leicht und flüssig, spannend und unterhaltsam, und behandelt doch ein komplexes Gedankenexperiment. Maja Lunde erzählt in ihrem Roman, welche Auswirkungen der Stillstand der Zeit sowohl im Einzelnen bedeuten kann, vergisst aber auch nicht die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Was bedeutet es, ewig zu leben? Ist das ewige Leben, das wir uns sicher alle schon einmal gewünscht haben, Fluch oder Segen? Aus anfänglicher Euphorie wird schnell Rastlosigkeit und schließlich auch Gewalt. Für immer ist ein großartiger, kluger Roman, der mich noch lange nach der Lektüre beschäftigt hat."
Sabine Abel
Katharina Köller: Wild Wuchern
Marie, die Erzählerin, ist auf der Flucht. Sie ist Hals über Kopf in Wien in einen Zug gesprungen und nach Tirol gefahren. Jetzt ist sie zu Fuß im Dunkeln unterwegs auf einen Berggipfel, durch Wälder und Dickicht ohne Ausrüstung, nur mit einem Kapuzenpulli und in Segeltuchturnschuhen. Sie hat Angst, dass jemand hinter ihr her ist. Jemand, den sie in Wien verletzt hat, am Kopf und wahrscheinlich mit einer Kristallvase. Genau erinnert sie sich aber nicht mehr. Marie rennt, bleibt an Dornen hängen, stolpert über Wurzeln, dann gibt auch noch das Handylicht den Geist auf. Aber sie muss es einfach schaffen. Denn oben auf dem Berg, in einer alten Berghütte, lebt ihre Cousine Johanna schon viele Jahre mehr oder weniger als Eremitin. Sie ist die Einzige, die Marie jetzt Schutz bieten kann. Schutz vor dem Mann, falls er ihr doch irgendwie folgen sollte, und Schutz vor der Polizei, falls sie zu fest zugeschlagen haben sollte.
Seit vielen Jahren hatten die beiden Cousinen keinen Kontakt mehr, auch wenn sie als Kinder fast wie Geschwister aufgewachsen sind. Zu viel ist in der Vergangenheit passiert, zu unterschiedlich sind die Lebensentwürfe der beiden Frauen. Marie war immer die blonde Hübsche, die es allen recht machen will, die Goldmarie. Daneben ging Johanna, die still und unauffällig ist, immer ein wenig unter. Schon als kleines Kind entwickelt Johanna zu Tieren viel einfacher und natürlicher eine Verbindung als zu den Menschen, denen sie sowieso nicht genügt. Jetzt treffen die beiden Frauen das erste Mal wieder aufeinander. Begeistert ist Johanna über Maries Besuch überhaupt nicht. Schließlich hat sie gute Gründe für ihr Alleinleben. Bleiben darf Marie trotzdem - vorerst.
"Katharina Köller hat ein großartiges, kraftvoll erzähltes Buch über zwei Frauen geschrieben. Wie in einem Kammerspiel entwickelt sich die Handlung oben auf der Berghütte. In Rückblenden erleben wir die Kindheit und das Aufwachsen der Cousinen - mit all den Erwartungen der Eltern, der Großeltern und der Altersgenossinnen. Wir lesen, wie unterschiedlich die beiden mit diesen Erwartungen umgehen. Es geht um unterdrückte Gefühle, die Rolle als Frau in der Familie und auch in der Gesellschaft. Es geht um angelerntes Verhalten bis hin zur Selbstaufgabe. Es geht um Wut und um die durchaus befreiende Wirkung, wenn man sich ihrer bewusst wird und sie zulässt. Ein Buch wie ein Gewittersturm, nicht nur für Frauen!"
Sabine Abel
Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters
Motte ist der Spitzname der Ich-Erzählerin, den sich ihr Vater für sie ausgedacht hat. Er ist Fabrikarbeiter und die Familie lebt in sehr einfachen, eher armen Verhältnissen. Hinzu kommt, dass Mottes Vater ein Trinker und Spieler ist. Wenn er trinkt, trinkt er nicht nur ein bisschen, er säuft bis zur Unzurechnungsfähigkeit oder sogar Bewusstlosigkeit. Dann ist er auch nicht mehr der Vater, den Motte so liebhat. Der Vater, der mit ihr Blödsinn macht, Verstecken spielt und immer Zeit und Geduld für sie und den Bruder aufbringt. Wenn ihr Vater betrunken ist, ist er ein ganz anderer Mensch. Mottes Mutter tut, was sie kann, um die Familie über Wasser zu halten. Bis auch sie irgendwann nicht mehr kann. Laut der Mutter ist es völlig normal, dass Männer zu viel trinken. Das sei bei allen in der Familie so gewesen, ihrer eigenen und in der des Vaters sowieso. Und als Motte langsam erwachsen wird, trinkt auch sie viel zu viel. Schon als Kind hat sie bei Festen ihrer Eltern die Bier- und Weinflaschen, die am nächsten Morgen noch herumgestanden sind, leergetrunken. Das gab ihr immer so ein schönes, warmes Gefühl im Bauch. Auch der Freund der Ich-Erzählerin hat ein Alkoholproblem. Lediglich ihr Bruder, der Erzieher ist, scheint keinen Alkohol zu brauchen. Er ist da und kümmert sich um seine Schwester, auch wenn es manchmal wirklich übel um sie steht. Dann wird der Vater schwer krank. Für Motte wird es Zeit, sich zu verabschieden. Vom Vater und letztlich auch vom Alkohol.
"Mit Sicherheit ist dieser Roman keine leichte Kost. Der Leser taucht in eine Welt ein, die von Sucht und Geldnot bestimmt wird. Aber obwohl die Ich-Erzählerin in einer Familie groß wird, in der vieles falsch läuft, steckt in diesem Roman so viel Herz, Liebe und Zuneigung, wie ich es selten zuvor erlebt habe. Wenn es schwierig wird, stehen alle zueinander, helfen sich, sind füreinander da. Dieser Roman ist zugleich so knallhart, dass man es beim Lesen manchmal nicht mehr aushalten mag und gleichzeitig so zart und liebevoll, dass einem fast die Tränen kommen. Der Weg der Ich-Erzählerin in ein neues Leben ist bemerkenswert und großartig. Mein Lieblingsbuch der Saison!"
Sabine Abel