Heimat der Community Gehörlosenzentren vor dem Aus?
Sie waren die sozialen, kulturellen und politischen Zentren und wichtiger Schutzraum für Kommunikation und Gebärdensprache. Heute sind bereits manche Gehörlosenzentren geschlossen, andere stehen vor der Schließung – oft aus finanziellen Gründen. Mit welchen Konzepten kann eine generationenübergreifende Zukunft gesichert werden?
Seit Monaten rumort es in Berlin, das Gehörlosenzentrum in der Friedrichstraße soll verkauft werden. "Das ist die Seele der Gehörlosen. Wenn das Gehörlosenzentrum wegkommt, dann verschwindet die Seele." Es sind drastische Worte, die Rudi Sailer findet. Doch die Gehörlosen-Community ist sich weitestgehend einig: Früher waren die Gehörlosenzentren die Heimat für alle Gehörlosen. Und das sollen sie bleiben.
Thomas Zander besucht verschiedene Gehörlosenzentren und geht der Frage nach: Welche Bedeutung haben Gehörlosenzentren heute noch und mit welchen Konzepten kann eine generationenübergreifende Zukunft gesichert werden?
Schon In den 70er- und 80er-Jahren erkannte man in Deutschland, dass taube Menschen Begegnungsstätten brauchen, den Austausch untereinander und Bildungsangebote – also soziale und kulturelle Kontakte. So sind nahezu überall Gehörlosenzentren entstanden. Finanziert wurden die meist über den Staat oder die Kirchen.
Die Berliner Gehörlosenzentren
In Berlin entstand 1972 ein Verein, ins Leben gerufen von hörenden Eltern für ihre tauben Kinder. Vier Jahre später ist der Verein in die Friedrichstraße umgezogen – und wurde zur Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen. Das Haus mit der Nummer 12 wurde zum Gehörlosenzentrum. Ein Meilenstein für die Community. Ab 1990 wurde dort angebaut und erweitert, 1994 war das Gehörlosenzentrum dann bezugsfertig.
In Berlin gab es mit dem Mauerfall zwei solcher Zentren – eines im Osten und eines im Westen. Der Osten bot ein großartiges Veranstaltungsprogramm. Im Westen konzentrierte man sich eher auf die Versorgung Gehörloser mit zusätzlicher Behinderung. Veranstaltungen waren nicht so im Fokus. So bestanden die Zentren auch nach der Wende nebeneinander.
Zusammenlegung der Häuser
Das Haus im Osten musste jedoch aufgrund von Mieterhöhungen umziehen – raus aus der Schönhauser Allee in ein Randgebiet. Damit verlor das Zentrum an Attraktivität und somit auch Besucher. Inzwischen wird die Idee diskutiert, die beiden Gehörlosenzentren am Standort Friedrichstraße zusammenzulegen. Marcus Klinke, Organisator einer großen Protestaktion für den Erhalt der Friedrichstraße, ist überzeugt, dass dies die richtige Lösung ist, eine Finanzierung durch Zusammenlegung leichter fällt. Das Gehörlosenzentrum FR12 hat bereits 80.000 Euro Spenden gesammelt; was daraus geworden ist, ist nicht bekannt.
Verkauf der Immobilie
Doch Klaus Tatarin, der 1. Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Berlin e.V. (GFGB e.V.) sieht die Rechnung als Hauseigentümer in der Friedrichstraße völlig anders. "Wir müssen das Haus aus vielen verschiedenen Gründen verkaufen", betont er. Die Sanierungs- und Reparaturkosten kalkuliert er auf knapp eine halbe Million Euro. "Da haben wir ja kein Geld dafür." Stattdessen soll künftig ein Gebäude angemietet werden.
Demonstration der Gehörlosen-Gemeinschaft
Dieser Lösungsansatz ist für viele aus der Gehörlosen-Gemeinschaft nicht schlüssig. In einer Demonstration am 15. Februar in Berlin stellten sich nahezu 300 Menschen offen gegen den Verkauf, brachten ihre Sorgen zum Ausdruck. Und sie fordern den Rücktritt des GFGB-Vorstands.
Reaktionen
Olga Pollex
"Es soll verkauft werden und irgendwo etwas gemietet werden. Aber irgendwann ist das Geld aufgebraucht und wie soll es dann langfristig weitergehen? Stiftungen wurden wohl angefragt, aber die Lösungsstrategien bleiben unklar, es wurde uns nichts erklärt. Es wird immer nur vom Verkauf gesprochen und dass dann irgendwo etwas gekauft oder gemietet werden soll. Alles sehr nebulös."
Rudi Sailer, Vorsitzender von Netgest e.V. (Netzwerk)
"Das Gehörlosenzentrum ist eine wichtige Heimat für taube Menschen. Wenn jetzt das Gehörlosenzentrum hier in Gefahr ist, oder auch woanders, müssen wir uns solidarisieren! Wir dürfen es nicht den Hörenden überlassen. Niemals! Wir müssen selbst aktiv werden und kämpfen!"
Marcus Klinke
"Das Ziel wäre, dass der GFGB -Vorstand zurücktritt, dass er abtritt. Das hoffe ich für die Zukunft."
Vielfalt in München
Dass es durchaus anders gehen kann, zeigt das Beispiel in München. Auch in der bayerischen Landeshauptstadt entstand schon 1977 ein Gehörlosenzentrum. Und auch hier ist man 2001 umgezogen. Der Neubau, der dem Gehörlosenverband München (GMU e.V.) gehört, brachte große Verbesserungen.
Viele Angebote unter einem Dach
Der erste Vorsitzende Can Sipahi führt Sehen statt Hören-Moderator Thomas Zander durch die Räumlichkeiten. Und es sind viele. Hier gibt es beispielsweise neben der allgemeinen Sozialberatung auch eine speziell für ukrainische taube Geflüchtete. Im Haus wird eine Zeitschrift produziert, regelmäßig ein Newsletter rausgeschickt und die Homepage gepflegt. In den Räumen werden Dolmetscher sowohl an Gehörlose als auch an Firmen vermittelt. Und es gibt das TEKOS-Team, das Gehörlose unter anderem auch im schriftlichen Bereich und bei Behördenangelegenheiten unterstützt. Außerdem ist hier auch eine Gebärdensprachschule angebunden.
Verein und Gesellschaft
Doch damit nicht genug. "Es gibt hier nicht nur das Gehörlosenzentrum und den Gehörlosen-Verband, sondern es gibt auch noch eine GmbH, genannt GL-S", erläutert Can Sipahi. Das "Gehörlosenzentrum-Service" organisiert Veranstaltungen für Gehörlose und Hörende. Und es werden Räume vermietet, damit dort gefeiert werden kann. "Außerdem kümmern wir uns um die Vereine und Selbsthilfegruppen und unterstützen diese in der Organisation", erklärt Beate Müller vom GL-S. So ist der große Saal gut gebucht, beispielsweise für die Seniorenversammlung, die einmal im Monat stattfindet.
Finanzierung gesichert
Und wie sieht es mit der Finanzierung aus? Die ist durch ein gutes System gesichert: Veranstaltungen und Projekte, die ein wirtschaftliches Risiko in sich tragen, laufen über die GmbH. Auch die Vermietungen hängen an der Gesellschaft. Klar haben Corona und die steigende Inflation auch beim Münchner Gehörlosenzentrum zu finanziellen Unsicherheiten geführt – doch es gab immer wieder Lösungsansätze. So boomt beispielsweise die neugestartete Raumvermietung und auch die Zuschüsse fließen weiter, die Mitgliedsbeiträge bleiben konstant.
Zukunftsorientiert in Bremen
Auf der anderen Seite der Republik – in Bremen - hat man sich in eine modernere Zukunft aufgemacht: Das Gehörlosenzentrum hier wird sogar als eine Art "Leuchtturm-Projekt" gefeiert. Sylvia Krenke-Felten, 1.Vorsitzende vom Gehörlosenzentrum Bremen e.V., ist stolz auf ihre beeindruckende Zahl von 500 Mitgliedern - und führt den Moderator durch die Räume.
Analog und digital aufgestellt
Auch hier ist vieles unter einem Dach: Vom großen Tagungssaal bis zum Archiv der Gehörlosengeschichte, vom Büro des Sportvereins bis zu diversen Beratungsangeboten, der Dolmetschervermittlung, der EUTB und einer Gebärdensprachschule. Digitalisierung wird großgeschrieben, die Dienste werden auch online angeboten, man ist aktiv auf YouTube.
Nachwuchs im Blick
Alles am Puls der Zeit also – und das, obwohl es das Gehörlosenzentrum Bremen im nächsten Jahr bereits ein halbes Jahrhundert gibt. Hier hat man den Nachwuchs im Blick, es gibt auch einen gutlaufenden Jugendclub – und all das zahlt sich aus. Die Mitgliederzahlen sind stabil, während diese bei anderen Gehörlosenvereinen rückläufig sind.
Ein Fazit
Um attraktiv zu sein und finanziell überleben zu können, müssen sich Gehörlosenzentren heute und in Zukunft neu aufstellen – mit innovativen Konzepten, Projekten, die auch jüngere taube Menschen einbinden, dem Angebot von Dienstleistungen, die die Vereine langfristig querfinanzieren können.
Die Zukunft des Gehörlosenzentrums in der Berliner Friedrichstraße steht dabei immer noch auf der Kippe …