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Serbien Zerrissen zwischen Ost und West

Serbien probt den Spagat: Es will der Europäischen Union beitreten, ohne die traditionell guten Beziehungen zum "großen Bruder" Russland gefährden. Doch die verhärteten Fronten in der Ukrainekrise machen dem Balkanland schwer zu schaffen.

Von: Arndt Wittenberg

Stand: 29.03.2015 | Archiv

Das Parlamentsgebäude in Belgrad | Bild: BR

Noch immer sind die Wunden des Krieges unübersehbar: Vor genau 16 Jahren schlugen im Zentrum von Belgrad Raketen der NATO ein. Seitdem hat sich viel getan. Serbien ist seit Jahren Beitrittskandidat der Europäischen Union. Doch der Ukrainekonflikt macht diesen Prozess zu einem politischen Drahtseilakt, denn Belgrad will seine traditionell guten Beziehungen zu Russland nicht gefährden. Und viele Serben sind gespalten, hegen große Sympathien für Wladimir Putin. Wohin steuert das Balkanland?

Sonntagmorgen, kurz vor neun Uhr auf dem Vracar-Hügel in Belgrad. Die Glocken der kleinen St. Sava-Kirche läuten zur heiligen Messe. Wie immer sind die Gottesdienste gut besucht: Der Mönch Sava gilt als Begründer der orthodoxen Kirche in Serbien.

Orthodoxe Serben sehen in ihrer Kirche die wirkliche Bewahrerin des Vaterlands, eng verflochten mit der "orthodoxen Mutter" Russland, mit der man während zweier Weltkriege siegreich Seite an Seite kämpfte und die auch 1999, im Krieg um das Kosovo, zu den Serben stand.

Neben der kleinen Kirche erhebt sich der Dom des Heiligen Sava, die monumentale Zentralkirche der serbischen Orthodoxie. Die Bauarbeiten dauern seit Jahrzehnten an, erst 2004 wurde das riesige Gotteshaus offiziell eingeweiht. "Mütterchen Russland" hilft bei der Fertigstellung: 30 Millionen Euro hat Moskau für aufwendige Mosaikarbeiten zugesagt.

Den Beginn der Offensive hatte der russische Präsident persönlich übernommen. Am 16. Oktober war Wladimir Putin in Belgrad eingeflogen, um – zumindest offiziell – den 70. Jahrestag zur Befreiung Belgrads durch die Rote Armee zu feiern. Seitdem fragt man sich in Brüssel besorgt: Will Putin den EU-Beitritt Serbiens verhindern?

Aleksandar Vučic

Lavieren zwischen Ost und West – für die amtierende serbische Regierung ist das ein tagtäglicher Drahtseilakt: Ministerpräsident Aleksandar Vučic will Serbien in die EU führen, ohne die guten Beziehungen zu Russland zu gefährden. Ein Mantra, das er in jedem Gespräch wiederholt:

"Natürlich möchten wir gern unsere guten Beziehungen zu Russland und Russen erhalten. Da machen wir kein Geheimnis draus. Auf der anderen Seite gibt es keine Zweifel über Serbiens Zukunft. Wir tun unser Bestes, um die Standards der Europäischen Union zu akzeptieren und umzusetzen. Wir haben bereits mit sehr scharfen, sehr harten ökonomischen Reformen begonnen. Wir tun wirklich unser Bestes, um diesen Status zu erreichen. Und dann ist es an Deutschland, über unseren Beitritt entscheiden, zusammen mit anderen EU-Staaten."

Aleksandar Vučic

Tatsächlich steht das arme Balkanland vor gigantischen Problemen: Die Bevölkerung ist überaltert, die Wirtschaft ist am Boden, die Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent. Kaum einer produziert etwas, die meisten Serben verdienen ihr Geld mit Handel oder im Staatsdienst. Vor diesem Hintergrund hatte die serbische Regierung harte ökonomische Reformen verkündet: Zehntausende Beschäftigte in den Staatsbetrieben sollen entlassen, Renten und Gehälter im öffentlichen Dienst um zehn Prozent gekürzt werden. Schon jetzt muss die Mehrheit der Pensionäre mit weniger als 200 Euro im Monat auskommen.

Was viele Serben skeptisch macht: auch die jetzige pro-europäische Regierung hat – trotz vollmundiger Ankündigungen – bislang nur wenig Taten folgen lassen, so wie bei dem Großprojekt "Belgrade Waterfront", durch das ein supermoderner Stadtteil à la Dubai entstehen soll, mit milliardenschwerer Hilfe arabischer Investoren. Doch Experten bezweifeln, ob das Projekt jemals realisiert wird. Denn es soll an der Stelle entstehen, wo sich derzeit der Belgrader Bahnhof befindet. An einem neuen Hauptbahnhof wird seit über 35 Jahren gebaut; doch Geldmangel und Bürokratie verhinderten bislang die Fertigstellung.

Auch Jungarchitekt Marko Berkes hält nichts von dem gigantomanischen Großprojekt "Belgrade Waterfront": Unpassend, unwirtschaftlich und städtebaulich eine Katastrophe, lautet sein vernichtendes Urteil. Es sind Projekte wie diese, die Marko an der Zukunftsfähigkeit seines Landes zweifeln lassen. Viele seiner Kommilitonen haben das Land schon verlassen, viele von ihnen sind nach Deutschland gegangen. Marko ist geblieben.

"Ich denke, der Krieg ist schuld an dieser Perspektivlosigkeit. Wir haben diesen Werteverlust erlebt, der mit dem Krieg einsetzte und auch nach dem Systemwechsel weiterging. Wir hatten ja einen großen Umbruch im Jahr 2000, nach dem Ende des Kosovo-Krieges. Viele hatten so viel Hoffnung damals. Und jetzt muss man enttäuscht feststellen, dass sich eigentlich nichts geändert hat."

Marko Berkes

Ana Adamovic

Neutral bleiben so wie früher – es ist die Sehnsucht vieler Serben nach dem Jugoslawien unter Tito, die auch die Belgrader Künstlerin Ana Adamovic immer wieder umtreibt. Die 40-Jährige war noch in dem sozialistischen Jugoslawien aufgewachsen. Nach dem Tode Titos zerfiel der Vielvölkerstaat. Diesen Identitätsbruch versucht die Künstlerin immer wieder zu thematisieren – so auch mit Fotos, die Schulkinder und ihre Lehrer an Marschall Tito schickten.

Als Ana 16 Jahre war, mündete auch der serbische Nationalismus in einen blutigen Krieg: eine dunkle Zeit, in der auch ihre nationale Identität zerbrach.

"Das größte Trauma für uns war dieser Ausbruch des Nationalismus und der komplette Wechsel der Identität, der damit verbunden war. Einen Tag warst du Jugoslawe, und am nächsten Tag solltest du Serbe sein. Einige meiner Freunde wurden gezwungen zu kämpfen, gegen unsere Feinde. Und diese Feinde waren unsere früheren Brüder, Kroaten und Bosnier."

Ana Adamovic

Kindheit im sozialistischen Jugoslawien – das ist auch das Thema der aktuellen Ausstellung von Ana Adamovic im Belgrader "Museum für Jugoslawische Geschichte". Gemeinsam mit anderen Künstlern hat sie dafür tausende Fotos und Videos aus staatlichen Archiven zusammengetragen. Die Ausstellung soll helfen, die Vergangenheit zu verarbeiten und in die Zukunft zu blicken. Doch wo liegt die Zukunft der Serben? Anas Haltung ist durchaus repräsentativ für die serbische Mittelschicht. Eine Annäherung an den Westen befürwortet sie, aber nur, weil es keine politischen Alternativen gibt.

Ankunft in der Kleinstadt Trstenik, 200 Kilometer südlich von Belgrad. Ziel ist der Staatsbetrieb "Prva Petoletka", zu Deutsch: "Erster Fünf-Jahres-Plan". So hatte Marschall Tito das Hydraulikunternehmen 1949 bei seiner Gründung getauft, und so heißt es noch heute. 17.000 Menschen haben hier einmal gearbeitet, auch für westliche Konzerne. Jetzt sind gerade noch 3000 Arbeiter übrig. Mit Beginn des Krieges Anfang der 90er Jahre brach das Geschäft zusammen. Seitdem wurde nie wieder investiert. Ein Hauch von sozialistischer Nostalgie umweht die Hallen – überall Bilder von Tito.

Jahrzehntelang haben sich Direktoren und Arbeiterräte hier ihre Taschen gefüllt und sich hohe Löhne ausgezahlt. Nie wurden Steuern, nie Rentenzahlungen an den Staat abgeführt, nie Geld in neue Maschinen investiert. Jetzt sind große Teile des einstigen sozialistischen Vorzeigeunternehmens nicht mehr wirtschaftlich. Eine Situation, die Gewerkschaftsvertreter wie Dragan Stanojcic bislang einfach ausblenden:

"Ich muss sagen, dass wir Arbeiter hier sehr optimistisch sind. Wir sind bereit, viel zu arbeiten und das Werk zu erhalten. Wir Arbeiter würden das Werk auch selber privatisieren und dann komplett übernehmen, wenn sich im Zuge der Privatisierung kein Investor finden sollte."

Dragan Stanojcic

Wunschträume: Bis Ende des Jahres sollen nach dem Willen der Regierung Investoren gefunden sein. Wenn nicht, droht die Liquidierung. Was das bedeutet, ahnen hier nur wenige.

Eine knappe Mehrheit der Serben hat sich bislang für die Europäische Union entschieden. Doch der Erfolg des Beitrittsprozesses wird davon abhängen, ob die Jugend mitzieht. Sonst könnte es passieren, dass Belgrad den letzten Zug nach Europa doch noch verpasst.

Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungsmanuskripts, das Sie hier auch als .pdf-Download abrufen können:

Das Sendungsmanuskript als Download Format: PDF Größe: 68,88 KB


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