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Übergewicht, Adipositas WHO alarmiert: Immer mehr Menschen zu dick

Die Weltgesundheitsorganisation WHO greift in ihrem „European Regional Obesity Report 2022“ zu drastischen Worten: Übergewicht und Adipositas haben mittlerweile epidemische Ausmaße erreicht. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Author: Sabine Pusch

Published at: 17-5-2022

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schlägt Alarm. In einem umfassenden Bericht spricht sie von einer Krankheit mit epidemischen Ausmaßen, warnt vor den gesundheitlichen Problemen und wirtschaftlichen Kosten für Gesellschaft und Gesundheitssysteme. Und meint damit: Übergewicht und Adipositas. Zwei Drittel der Menschen in der Europäischen Region sind zu dick, in Deutschland rund 57 Prozent. Interessant dabei ist: Während hierzulande knapp 49 Prozent der Frauen übergewichtig oder adipös sind, bringen es die Männer auf stolze 65 Prozent. Und das ist erst der Anfang, sagt Ernährungswissenschaftlerin Monika Bischoff.

"Adipositas ist eine chronische Krankheit. Es sind jetzt schon mehr als 16 Millionen Deutsche adipös. Und wir brauchen uns nicht zu wundern: Wenn wir jetzt nichts machen, sind wir in zehn Jahren bei 70 Prozent."

Monika Bischoff, Diplom Ökotrophologin, ZEP am Barmherzige Brüder Krankenhaus München

Übergewicht und Adipositas

Für die WHO Europa gelten Menschen ab einem Body Mass Index (BMI) von 25 als übergewichtig, ab 30 sprechen die Experten von Fettleibigkeit. Der BMI wird aus Körpergröße und -gewicht berechnet.

Übergewicht und Adipositas können der Gesundheit in vieler Hinsicht schaden.

Mit drastischen Folgen für die Gesundheit: Starkes Übergewicht belastet Gelenke und Wirbelsäule, erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Herzinfarkte, für Diabetes Typ-2 und für dreizehn verschiedene Krebsarten, für Nieren- und Leberbeschwerden, Atemwegserkrankungen, Rückenschmerzen und mentale Probleme. Übergewicht und Fettleibigkeit zählen laut WHO-Bericht zu den Hauptursachen für Behinderungen und Todesfälle in der Europäischen Region.

Adipositas und Übergewicht: Selbsthilfe kann Leben retten

Mit Diabetes und Bluthochdruck hatten auch Axel und Sabine Hacker lange zu kämpfen. Durch mehr Bewegung im Alltag, Sportarten wie Boxen, eine Ernährungsumstellung und eine Magenverkleinerung haben die beiden abgenommen. Axel 50 Kilo, Sabine 120 Kilo.

"Es ist wie ein Leben 2.0 – Wir bezeichnen das tatsächlich so. Ich würde heute nicht mehr leben, wenn ich diese Wege nicht gegangen wäre, die ich gegangen bin. Ich habe Lebensqualität, die hatte ich vorher nicht mehr. Begonnen damit, mein Leben umzustellen, habe ich nur einfach viel zu spät. Das hätte 40 Jahre früher sein müssen."

Sabine Hacker, Vorsitzende Adipositas-Hilfe München e. V.

Inzwischen leitet das Paar die Adipositas-Hilfe München e.V., einen Verein mit Selbsthilfegruppe. Dort informieren sie über Therapiemöglichkeiten, organisieren Ausflüge wie Lama-Wanderungen, Workshops und Sportkurse ohne Gewichtsdiskriminierung: Pilates, Zumba, Boxen. Das Ziel des Vereins ist, Menschen aus der Isolation zu holen. Denn viele Betroffene trauen sich kaum mehr in die Öffentlichkeit – aus Angst vor vernichtenden Blicken und Beleidigungen. Und obwohl der Anteil an übergewichtigen und adipösen Männern in Deutschland bei 65 Prozent liegt, sind sie bei den angebotenen Veranstaltungen stets in der Minderheit.

"Wir haben bei uns, sowohl in der Selbsthilfegruppe als auch im Verein, nur einen Männeranteil zwischen zehn und fünf Prozent. Woran es liegt? Männer machen so Sachen vermutlich eher mit sich selbst aus, sind nicht die Typen für eine Selbsthilfegruppe."

Axel Hacker, Vorsitzender Adipositas-Hilfe München e. V.

Sport und Bewegung können helfen, das Gewicht zu halten und Emotionen besser zu verarbeiten.

Eine wichtige Stellschraube ist für Sabine und Axel Hacker der Umgang mit Emotionen. Der Umgang mit Gefühlen müsse erlernt werden – wenn nicht im Elternhaus, dann in Kindergarten und Schule. Denn bei vielen Betroffenen sei genau das das Problem: Erfahrungen und die damit einhergehenden Gefühle werfen einen Menschen aus der Bahn und werden kompensiert – teils mit Essen.

Adipositas: frühe Therapie ist wichtig

Je früher desto besser: Adipositas-Therapie für Kinder und Jugendliche

Je früher gegengesteuert wird, desto besser. Die Fachklinik Gaißach in der Nähe von Bad Tölz ist auf Kinder und Jugendliche mit Übergewicht spezialisiert. Das Ziel: Abnehmen, Ernährung umstellen und Bewegung zur Norm machen. Ob beim Geschicklichkeitstraining in der Turnhalle oder im Trainingsraum: Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, dass es Spaß machen kann, aktiv zu sein. Ein großes interdisziplinäres Fachkräfte-Team aus den Bereichen Medizin, Sport, Ernährung, Psychologie und Pädagogik kümmert sich um die jungen Patienten.

Die Corona-Pandemie hat nochmals zu einer Zunahme von Übergewicht bei Kindern geführt.

Vorläufige Daten deuten laut Weltgesundheitsorganisation zudem darauf hin, dass die Fettleibigkeit unter Kindern und Jugendlichen aufgrund der Corona-Pandemie steigt. Schuld daran sind unter anderem: mangelnde körperliche Aktivität in Lockdown- und Quarantäne-Zeiten sowie ein verändertes Ernährungsverhalten. Der Zustand vieler Kinder und Jugendlicher macht der Klinikdirektorin Prof. Edda Weimann große Sorgen. Sie kritisiert: Viele Konzepte und Therapien wären wesentlich effektiver, wenn sie früher greifen würden und vor allem, bevor sich Verhaltensweisen zu sehr festigen.

"Wir haben teils Jugendliche mit 120, 150, 200 Kilogramm. Die können sich kaum mehr bewegen. Und da sehen wir natürlich massive Begleiterkrankungen. Wenn ich Visite mache, ist das manchmal, als ob ich in der Geriatrie arbeiten würde. Nierenleiden, Bluthochdruck. Das sind teils Begleiterkrankungen wie bei 40- oder 50-Jährigen."

Prof. Dr. med. Edda Weimann, Pädiatrische Endokrinologin und Diabetologin, Fachklinik Gaißach

Übergewicht: Kosten für Gesundheit und Gesellschaft

Übergewicht macht krank. Und ist teuer: Übergewichtige und adipöse Kinder verursachen im Laufe ihres Lebens dreimal so viele Kosten wie normalgewichtige Kinder. Dazu hat Gesundheitsökonomin Dr. Diana Sonntag von der Universitätsmedizin Mannheim ein Modell erstellt.

"Zusammengerechnet kommen wir auf 1,8 Milliarden zusätzliche Kosten. Und 1,8 Milliarden ist eine Summe, die zukünftig aufs Gesundheitssystem zukommt. Die meisten Kosten entstehen dabei allerdings nicht im Erwachsenenalter, sondern wirklich dann, wenn Kinder übergewichtig und adipös sind und dieses Gewicht im Laufe ihres Lebens nicht verlieren."

Dr. habil. rer. pol. Diana Sonntag, Gesundheitsökonomin Uni Heidelberg

Sie fordert: Gegensteuern. So früh wie möglich. Mit sinnvollen ökonomischen Maßnahmen, die viele Menschen erreichen. Vorstellbar wären etwa ein verpflichtendes Werbeverbot von Kinderwerbung. Dr. Sonntag fordert Zusammenarbeit: Experten aus Medizin, Public Health, Ökonomie, Politik, Psychologie, Medizinhistorik und Anthropologie müssten gemeinsam ergründen, warum das Problem mit dem Gewicht derart groß ist. Und sie müssten auch interdisziplinäre Lösungen finden – ein Maßnahmenpaket schnüren, dass komplex genug ist, um der Herausforderung zu begegnen. Auch die Ernährungs-Expertin Bischoff hat konkrete Tipps.

"Relativ einfach wäre es zum Beispiel, wenn wir Lebensmittel, die viel Zucker enthalten, hoch besteuern. In einem handelsüblichen kleinen Fläschchen Obst-Smoothie sind häufig circa zehn Würfelzucker enthalten. Grundnahrungsmittel, also Kartoffeln und Gemüse etwa, sollten steuerlich günstiger werden. Außerdem wichtig ist Aufklärungsarbeit und Bildungsarbeit in den Schulen: Schokolade ja – aber nicht viel."

Monika Bischoff, Diplom Ökotrophologin, ZEP am Barmherzige Brüder Krankenhaus München

Noch immer sei es zudem so, so Bischoff, dass Adipositas als kosmetisches Problem oder Befindlichkeitsstörung abgetan werde. Obwohl die WHO bereits vor mehr als 20 Jahren klar definierte: Adipositas ist eine chronische Krankheit. Mit der Video-Aktion „Adipositas ist eine chronische Krankheit“ will das Zentrum für Ernährung und Prävention auf den Umstand aufmerksam machen.

Ernährung mit viel Obst und Gemüse hilft dabei, Übergewicht zu vermeiden.

Auch die WHO rief die Politik zum Handeln auf. So seien politische Maßnahmen, die bei der gesamten Bevölkerung auf umweltbedingte und wirtschaftliche Faktoren für schlechte Ernährung abzielen, wahrscheinlich am effektivsten bei der Eindämmung der Fettleibigkeitsepidemie.
Es braucht also viele Maßnahmen, um etwas zu verändern. Und ein frühes Gegensteuern. Nur das kann die Kosten für Gesellschaft niedrig und die Lebensqualität für jeden möglichst lange erhalten.


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