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Millionen Deutsche betroffen Wie die Anti-Migräne-Spritze das Leben verändern kann

Ein Pulsieren, Stechen, Hämmern im Kopf: Acht Millionen Menschen in Deutschland kennen diesen Migräne-Schmerz. Nun gibt es einen neuen Therapie-Ansatz. Eine Spitze mit Antikörpern soll die Schmerzübertragung im Gehirn hemmen. Experten sprechen von einem Meilenstein. Zurecht?

Von: Julia Richter

Stand: 06.02.2024

Das Thema Migräne beschäftigt Susanne Burkhart schon fast ihr ganzes Leben lang. Bei der 53-Jährigen fing es bereits im Teenageralter an. Bis zu 20 Attacken hatte sie im Monat. Die Migräne kommt anfallsartig, sie ist meist sehr stark und einseitig.

"Der Schmerz ist einfach stechend, pulsierend, unheimlich stark, also das Gefühl: Ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich möchte am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand und fühle mich total ausgeliefert."

Susanne Burkhart, Migräne-Patientin

Tagelange Attacken mit Übelkeit, Seh- und Sprachstörungen

Das Schlimme: Die Attacken dauern stunden-, manchmal sogar tagelang. Susanne Burkhart ist außerdem extrem licht- und lärmempfindlich. Gleichzeitig ist ihr so übel, dass sie sich fast immer übergeben muss.

Los geht es bei ihr in der Regel mit einer Aura, das heißt, Susanne hat Seh- und Sprachstörungen. Andere Patienten mit Aura klagen über Flimmern, Lichtblitze oder Teilausfälle beim Sehen. Wieder andere Patienten bekommen Migräne ohne eine Aura. Auch die 21-jährige Antonia Heimlich leidet unter Migräne, seit sie ein kleines Kind war.

"Bei mir fühlt es sich so an, als ob mir jemand einen Nagel in den Kopf schlägt. Es schmerzt auf einer Seite, und ich muss mich sofort hinlegen, brauche Ruhe. Das Schlimmste ist, dass ich nie weiß, wann es wiederkommt. Man ist so allein, fühlt sich so verlassen, alle Freunde sind draußen und unternehmen etwas – und man liegt so da."

Antonia Heimlich, Migräne-Patientin                                            

Acht Millionen Menschen in Deutschland betroffen

So wie den beiden geht es rund acht Millionen Menschen in Deutschland. Migräne gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Wie genau eine Migräne entsteht, ist bis heute nicht ganz klar. Auslöser sind sogenannte Triggerfaktoren. Bei den meisten ist es körperlicher oder seelischer Stress.

Auch Hormone haben einen Einfluss. So spielt etwa die Menstruation bei manchen Patientinnen eine wichtige Rolle. Migräne ist auch genetisch bedingt: Man kennt heute etwa 38 Migräne-Gene, die einen Einfluss auf die Entstehung der Krankheit haben.

Fest steht: Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Unterschieden werden chronische Migräne, davon spricht man bei 15 Kopfschmerztagen und mehr im Monat, und episodische Migräne, das sind bis zu 14 Kopfschmerztage im Monat.

Die bisherige Behandlung der Migräne

Zur Behandlung im Akutfall stehen klassische Kopfschmerztabletten zur Verfügung, beispielweise Analgetika. Viele Betroffene nehmen spezielle schmerzstillende Medikamente wie Triptane. Diese haben allerdings auch Nebenwirkungen wie Schwindel oder Übelkeit. Es gibt unterschiedliche Darreichungsformen von Tabletten über Nasenspray. Außerdem gibt es schneller einsetzende und dafür kürzer anhaltende Triptane und langsamer einsetzende und dafür länger anhaltende Triptane. In der Regel nehmen Betroffene eine Kombination aus beidem. Das Problem bei Schmerzmitteln ist der drohende Übergebrauch. Experten empfehlen, höchstens an zehn Tagen pro Monat ein Schmerzmittel einzunehmen. Sonst besteht die Gefahr, abhängig zu werden.

Insgesamt ist es wichtig, die Therapie genau mit einem Spezialisten abzustimmen. Dazu kann man sich an die Migräne-Liga wenden. Ein Problem in der Behandlung ist nach Ansicht vieler Experten, dass die Mehrheit der Migräne-Patienten nicht richtig beraten wird. Nach Angaben von Dr. Britta Fraunberger vom Universitätsklinikum Erlangen werden sogar rund 90 Prozent der Patienten nicht richtig betreut, weil sie nicht vom einem Migränespezialisten behandelt werden.

Neben Schmerzmitteln gibt es eine Reihe Medikamente zur Migräne-Prophylaxe. Diese Mittel wirken allerdings nicht bei allen Patienten und haben zum Teil sehr schwere Nebenwirkungen wie starke Gewichtszunahme, Schwindel oder Angststörungen. Auch Susanne Burkhart hat diese Therapien hinter sich.

"Ich habe sämtliche Prophylaxe-Mittel eingenommen, von Anti-Depressiva über Beta-Blocker, Anti-Epileptika, Botox. Ich war an verschiedenen Migräne-Kliniken. Heilpraktiker, Biofeedback, Heiler, TCM – ich habe eigentlich alles versucht."

Susanne Burkhart, Migräne-Patientin

Einmal pro Monat die Anti-Migräne-Spritze

Die Wende kommt bei Susanne vor gut einem Jahr. Sie hört bei ihrem Neurologen von einer neuartigen Behandlung: einer Anti-Migräne-Spritze.

"Das sind die ersten wirklich speziell gegen die Migräne gerichteten Medikamente in Form von Antikörpern, die im Labor hergestellt worden sind. Einfach verabreichbar. Sie schränken die Ausbreitung der Migräne wesentlich ein."

Dr. med. Walter Maier-Janson, Ravensburg

Diese drei Wirkstoffe sind zugelassen

Einmal im Monat muss das Präparat gespritzt werden – entweder in den Arm oder in den Oberschenkel. Die Patienten können das zu Hause selbst machen. Zugelassen sind hierzulande die drei Wirkstoffe Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab.

Einmal pro Monat wird die Anti-Migräne-Spritze gesetzt.

Heute weiß man, dass bestimmte Regionen im Gehirn während einer Migräneattacke überreizt sind. Es konnte nachgewiesen werden, dass Botenstoffe freigesetzt werden – das sogenannte CGRP. Dieses Peptid löst eine Art Kettenreaktion aus: Gefäße entzünden sich, schwellen an und verursachen Schmerzen. Bisher konnte nichts diesen Botenstoff selbst stoppen. Die neuen Antikörper neutralisieren die CGRP-Moleküle entweder direkt oder blockieren die Rezeptoren, so dass der Botenstoff nicht mehr andocken kann.

Neue Therapie kann Leben der Betroffenen verändern

Susanne war eine der ersten Patientinnen in Deutschland, die die Spritze bekommen hat. Anfangs hatte sie Angst, zu große Erwartungen zu haben – inzwischen ist sie begeistert.

"Das hat komplett mein Leben verändert. Für mich ist es wie ein zweites Leben. Ich hatte vor der Spritze zirka 20 Anfälle im Monat. Jetzt habe ich noch zwei, drei Anfälle, die ich aber meist sogar ohne Triptan aushalten kann, weil sie einfach von der Intensität her viel, viel schwächer sind."

Susanne Burkhart, Migräne-Patientin

Auch bei Antonia schlägt die Spritze an: Die Medizinstudentin hat nun maximal drei Anfälle pro Monat. Vorher waren es zehn. Ihre behandelnde Neurologin ist zufrieden.

"Es sind gut die Hälfte bis zu zwei Drittel der Patienten, die profitieren, das heißt, die eine Reduktion der Attacken um die Hälfte haben. Es gibt aber auch Leute, die gar nicht profitieren. Dafür gibt es auch Leute, die fast keine Attacken mehr haben. Das sind natürlich deutlich weniger Leute – da ist man so im Rahmen von zehn bis 20 Prozent. Wer das sein wird, das wissen wir leider nicht, das heißt, wir müssen es einfach ausprobieren."

Dr. med. Monika Empl, München

Zugelassen sind die drei Mittel ausschließlich für Patienten, die mindestens vier Migränetage im Monat haben und mindestens vier andere (vorbeugende) Wirkstoff-Klassen oder Therapien ausprobiert haben.

Der Gemeinsame Bundesausschuss teilt auf Anfrage des BR mit, dass er einen zusätzlichen Zusatznutzen sieht und die Arzneimittel in solchen Fällen grundsätzlich erstattet. Das heißt: Die Kassen übernehmen in der Regel die Therapie.                                                                           

"Die Spritzen werden sehr gut vertragen. Häufigste Nebenwirkung sind Schmerzen oder Reaktionen an der Einstichstelle. Das ist auch das Schöne daran, dass sie bislang so wenig Nebenwirkungen haben. Wir wissen allerdings noch nicht, ob vielleicht im Laufe der breiten Anwendung noch Nebenwirkungen dazukommen – einfach deshalb, weil es ein neues Präparat ist."

Dr. med. Monika Empl

Tipp: Stress vermeiden, Entspannungsübungen einbauen

Experten betonen aber, dass ein ganzheitlicher Ansatz wichtig ist. Deshalb achtet auch Susanne Burkhart trotz der Anti-Körper-Therapie darauf, Stress zu vermeiden. Mehrmals in der Woche macht sie Entspannungsübungen und Yoga. Auch spezielles Achtsamkeitstraining kann helfen, Stress zu bewältigen und den Umgang mit Schmerzen zu erleichtern. Wichtig ist für viele Patienten zudem ein strukturierter Tagesablauf mit geregelten Mahlzeiten und ein fester Tag-Nacht-Rhythmus.

Achtung: Bestimmte Patienten dürfen die Mittel nicht nehmen, wenn sie zum Beispiel Herzprobleme oder chronische Darmerkrankungen haben. In diesem Fall könnten sie Antikörper unter Umständen zu Komplikationen führen.


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