Kinderkliniken Droht der Kollaps?
Die Kinderkliniken in Deutschland schreiben seit Jahren rote Zahlen. Viele stehen vor dem Aus. Schuld sind nicht die Kliniken oder Kassen, sondern das System der Fallpauschalen. Eine aktuelle Reform des Gesundheitsministeriums soll helfen. Doch reichen die Maßnahmen aus, um die Versorgung sicherzustellen?
Die junge Patientin von Dr. Johanna Hammersen hat eine weite Anreise hinter sich. Zwei Stunden Fahrt. Denn die Kinderklinik in Erlangen ist die nächstgelegene Stoffwechselambulanz, die sich mit der Erkrankung auskennt. Mathilda leidet unter einer Propionazidämie. Eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung. Um nicht schwer krank zu werden, ist sie auf einen strikten Ernährungsplan und Spezialnahrung angewiesen. Die seltene Krankheit, die sogar lebensbedrohlich sein kann, erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen.
"Für den Aufenthalt waren verschiedene Sub-Spezialisierungen von Kinderärzten erforderlich und die Kollegen von der Kinderchirurgie. Auch das Pflegepersonal ist natürlich extrem wichtig. Sowie Ernährungsberaterinnen. Da steht wirklich ein ganzes Team dahinter, das jederzeit einsatzbereit sein muss, um sich um solche Kinder wie Mathilda kümmern zu können."
- PD Dr. med. Johanna Hammersen, Diabetologin und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderklinik Erlangen
Die Voll-Versorgung ist in Gefahr
Auch, weil zu wenige betreibbare Betten zur Verfügung stehen, bröckelt die Vollversorgung. Notfallmediziner Matthias Hübner arbeitet auf der Kinder-Intensivsstation und ist im Norden Bayerns im Rettungsdienst unterwegs.
"Es ist relativ schwer mittlerweile Kinderbetten, Intensivbetten zu finden. Und dann hat man natürlich ewig lange Fahrtzeiten. Es kann sein, dass das Kind intubiert ist. Dass es beatmungspflichtig ist. Es Medikamente braucht, um den Kreislauf zu stabilisieren. Und jede Minute zählt dort eigentlich."
- Dr. med. Matthias Hübner, pädiatrischer Intensivmediziner, Kinderklinik Erlangen
Kaputt gespart, sagt Burkhard Rodeck von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.
"Die Situation in den Kliniken in Deutschland ist eine dramatische. Wir haben seit Jahrzehnte die reine fallzahlabhängie Finanzierung, die gerade für die Kinder und Jugendmedizin, die ja sehr viel Zeit braucht, nicht ädäquat funktioniert. So dass wir hier die Situation haben, dass viel gespart wurde, dass Personal eingespart wurde. Und das fällt uns jetzt auf die Füße."
- PD Dr. med. Burkhard Rodeck, Generalsektretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin DGKJ.
Die Zahl der Fachabteilungen für Kinderheilkunde ist seit 1995 von 416 auf 334 gesunken. Ähnlich sieht es bei der Anzahl der Betten aus: Fast ein Drittel weniger als noch in den 90er Jahren. Während 1995 noch 25.939 Betten zur Verfügung standen, waren es 2020 nur noch 17.959.
Und das bei steigenden Fallzahlen und einer kürzeren Verweildauer der jungen Patienten in der Klinik.
Die Folge dieser Entwicklung: Eine immense Verdichtung der Arbeitszeit für Pflege und Medizin.
Fallpauschalen als großes Problem der Pädiatrie
Viele Kinderkliniken in Deutschland schreiben rote Zahlen. Der Grund: Die Fallpauschalen. Im 2003 eingeführten DRG-System, den diagnosebezogenen Gruppen, bekommen Krankenhäuser für abgeschlossene Behandlungen von den Kassen je nach Diagnose Festbeträge. Gerade für die Pädiatrie sind die Fallpauschalen ein großes Problem. Sagt Prof. Wölfle von der Kinderklinik Erlangen. Und nennt als Gründe den höheren Zeitaufwand bei der Behandlung von Kindern und die Kosten für die Bereithaltung von Personal.
"Wir haben Spezialisten für Nierenerkrankungen, für Dialysen, für Krebserkrankungen, für die Versorung von Frühgeborenen. Für den Fall, dass diese Kinder kommen. Die sind nicht immer da. Aber: Diese Vorhaltekosten, die wir haben – die Feuerwehr quasi, damit, wenn das Kind kommt, damit wenn es brennt, man losfahren kann – die sind nicht hinterlegt im System."
- Prof. Dr. med. Joachim Wölfle, Direktor der Kinderklinik Erlangen
Die katastrophale Situation der Kliniken ist auch Thema einer Regierungskommission. Mehr als 40 Mal hat sich die Kommission schon beraten, so Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Und verspricht eine große Krankenhausreform. Daseinsvorsorge ohne Umsatzdruck. Beginnend bei bei der Kindermedizin.
Die Pläne: Kinderkrankenhäuser sollen aus den Fallpauschalen herausgenommen werden. Zudem soll die Versorgung der Geburtshilfe sichergestellt werden. Und zahlreiche Leistungen sollen in der Zukunft ohne Übernachtungen erbracht werden, um so Pflegepersonal zu entlasten und einsatzbereit für andere Aufgaben zu machen.
Kinder- und Jugendmediziner kritisieren die Vorschläge
Kritik an der zunächst geplanten zweijährigen Übergangsfinanzierung kommt von den betroffenen Gesellschaften der Kinder- und Jugendmedizin. Der gewählte Weg sei hoch komplex und in der Praxis kaum umsetzbar, so Dr. Burkhard Rodeck von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Auch deshalb, weil die zusätzliche Finanzierung wieder abhängig von Fallzahlen sei – und damit wieder falsche Anreize formuliere.
Besser wäre es, so die Kinder- und Jugendmediziner, die Finanzierung von den betreibbaren Betten abhängig zu machen. "Man sollte eigentlich die belegbaren, betreibbaren Betten in einer Kinderklinik nehmen und diese mit einem bestimmten prozentualen Anteil von diesem zusätzlichen Finanzierungsvolumen profitieren lassen. Also abhängig davon, wie viel vorgehalten werden muss", so der Generalsekretär der DGKJ.
Geld allein reicht nicht
Die wirtschaftlichen Entlastungen sind ein wichtiger Schritt. Doch das System krankt auch an anderen Stellen. Es gibt Personalengpässe wegen Influenza, Noro-Virus und Co. In den Wintermonaten rechnet Pflegedienstleitung Helga Bieberstein daher mit größeren Problemen.
"Das eine sind die Patienten. Das andere ist, dass wir auch einen erhöhten Krankenstand bei den Mitarbeitenden feststellen. Zwei Jahre Pandemie, zwei Jahren Masken bedeutet einfach, dass das Immunsytem, auch unserer Mitarbeitenden, etwas geschont wurde in den letzten Jahren. Und dass das jetzt häufiger zum Vorschein kommt."
- Helga Bieberstein, Pflegedienstleiterin der Kinderklinik Erlangen
Zu wenig Pflegekräfte, zu wenig spezialisierte Kinder- und Jugendmediziner, zu wenig Medizin-Studierende. "Weil sich viele angesichts der schlechten ökonomischen Situation der Kinder- und Jugendmedizin überlegen: Gehe ich überhaupt in diese Richtung? Schließlich haben etwa 30 Prozent der Einrichtungen in den letzten 25 Jahren zugemacht", erläutert Professor Joachim Wölfle, Direktor der Kinderklinik Erlangen.
Ausbilung der Medizin-Studierenden ist manchen Ländern zu teuer
Bis zu fünftausend zusätzliche Medizin-Studienplätze bräuchte es pro Jahr, um den Bedarf – auch an Kinder- und Jugendmedizinern – in der Zukunft zu decken. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach brachte einen entsprechenden Vorschlag in die Koalitionsverhandlungen ein, erzählt er am 23.10.2022 im ZDF heute Journal. Doch den Ländern sei die Ausbilung der Medizin-Studierenden zu teuer gewesen.
Wie viel die Reformen an den Warteschlangen vor den Kliniken und der Belastung des Systems ändern, ist also fraglich. Denn irgendwer muss die Patienten ja auch behandeln.