Alte Therapie neu entdeckt Diabetes · Amputationen des Fußes können verhindert werden!
Rund elf Millionen Menschen in Deutschland sind an Diabetes erkrankt. Im Durchschnitt dauert es acht Jahre, bis die Erkrankung diagnostiziert wird. Eine Folgeerkrankung ist das Diabetische Fußsyndrom – die häufigste Ursache für Amputationen oberhalb des Sprunggelenks.
Das Diabetische Fußsyndrom ist die häufigste Ursache für Amputationen oberhalb des Sprunggelenks. Mit Hilfe der retrograden venösen Perfusion (kurz RVP) können Amputationen verhindert werden. Damit gelingt es, schwere Infektionen auszuheilen, die ursächlich für Amputationen sind.
Ursachen des Diabetischen Fußsyndroms
Eine wesentliche Ursache ist die diabetische Polyneuropathie. Infolge eines langjährigen nicht diagnostizierten bzw. schlecht eingestellten Diabetes kommt es zu Schädigungen an den Gefäßen und an den Nerven. Das hat zur Konsequenz, dass die Wahrnehmung der Patienten massiv beeinträchtigt wird. Sie spüren weder Schmerzen- noch Hitzereize, was schwerwiegende Verletzungen nach sich ziehen kann.
"Die Hauptursache schwerer Wundinfektionen am Fuß ist die Nervenstörung, die durch einen jahrelang schlecht eingestellten Diabetes entsteht. Die Patienten haben kein Gefühl in den Füßen. Sie spüren dann nicht, wenn sie sich verletzen, wenn sie sich zum Beispiel einen Stein eintreten. Auf diese Weise entsteht ein Geschwür, ein sogenanntes Ulcus, bevorzugt im Bereich der Fußsohle. Der zu hohe Blutzucker ist ein guter Nährboden für Bakterien, die wir auf der Haut haben und so kommt es sehr schnell zu ausgeprägten Wundinfektionen."
Dr. med. Inge Hugenberg, Fachärztin für Diabetologie und Innere Medizin, Ärztliche Wundexpertin, RoMed-Klinik Prien
Konventionelle Behandlung
Bakterielle Infektionen im Fuß werden sowohl oral als auch lokal mit Antibiotika behandelt. Die geringe Ansprechrate führt mitunter dazu, dass Infektionen nicht ausheilen und sich so weit auswachsen, dass die Gefahr einer Sepsis im Raum steht, die lebensbedrohlich ist. Um das zu verhindern, ist eine Amputation häufig die letzte Rettung.
Dass konventionelle Antibiotikatherapien oft nicht den gewünschten Erfolg bringen, hat mehrere Gründe. Viele Patienten haben zusätzlich zu ihrem Diabetes eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (kurz pAVK). Das heißt, Engstellungen in den Gefäßen erschweren eine ausreichende Versorgung der Wundregion mit Antibiotika, Sauerstoff, aber auch ganz grundsätzlich mit Immunzellen sowie Immunmodulierenden Botenstoffen.
"Durch die Engstellungen kommt es zu Durchblutungsstörungen und einer grundsätzlichen Mangelversorgung. Das heißt auch, dass die Medikamente, die wir oral verordnen oder über die Vene geben, nicht am Zielort, der Wundregion, ankommen."
Dr. med. Inge Hugenberg, Fachärztin für Diabetologie und Innere Medizin, Ärztliche Wundexpertin, RoMed-Klinik Prien
Die retrograde venöse Perfusion (RVP)
Mit der retrograden venösen Perfusion (RVP) gelingt es, auch schlecht durchblutete Gewebe zu versorgen und ausgesprochen hohe Antibiotikaspiegel zu erzielen.
"Mit der RVP erzielen wir Antibiotikaspiegel, die etwa 20-mal so hoch sind wie bei einer konventionellen Antibiotikatherapie. Hinzu kommt, dass wir den Patienten die Nebenwirkungen oraler Antibiotikaeinnahmen ersparen, die insbesondere den Darm, bei Frauen auch die Blase und die Harnwege beeinträchtigen können."
Andreas Konrad, Krankenpfleger und RVP-Therapeut, RoMed-Klinik Prien
Um diese hohen Spiegel zu erreichen, wird eine arterielle Blutsperre am Bein angelegt. Über eine Manschette am Oberschenkel des von der Infektion betroffenen Beins wird ein Druck von 300 mm/Hg aufgebaut. So kann das Blut weder ab- noch zufließen. Da das Abbinden des Beins schmerzhaft ist, erhalten die Patienten starke Schmerz- und leichte Beruhigungsmittel. Sie sind während der gesamten Behandlung wach und ansprechbar.
Über eine Vene nahe der betroffenen Wundregion wird zunächst Heparin und Kochsalzlösung injiziert, um die Bildung von Blutgerinnseln zu verhindern. Dann wird ein Medikamentencocktail injiziert.
"Der Cocktail besteht aus Antibiotika, einem Lokalanästhetikum sowie Kochsalzlösung. Die Kochsalzlösung gewährleistet das notwendige Volumen, das wir benötigen, um die Medikamente bis in die feinen Endgefäße zu bringen, damit die Infektion dort komplett ausheilen kann."
Andreas Konrad, Krankenpfleger und RVP-Therapeut, RoMed-Klinik Prien
So können die Medikamente über das venöse System retrograd bis in die arteriellen Endgefäße, die Arteriolen diffundieren. Aus diesem Prinzip resultiert auch die Bezeichnung "retrograde venöse Perfusion". Nach der Injektion von 100ml Medikamentencocktail wirken die Substanzen 20 Minuten lang ein.
"Durch das Abbinden des Beines erzeugen wir eine Ischämie, eine extreme Durchblutungsstörung des Beins. Durch die 20-minütige Mangeldurchblutung wird der Körper richtig in Stress versetzt, was gewissermaßen physiologische Notfallprogramme auslöst. Es kommt zur Ausschüttung von Stresshormonen und in der Folge zu gefäßerweiternden Botenstoffen, die letztlich dafür sorgen, dass die Medikamente sich gut im Gewebe verteilen können."
Dr. med. Inge Hugenberg, Fachärztin für Diabetologie und Innere Medizin, Ärztliche Wundexpertin, RoMed-Klinik Prien
Dieser Effekt wird noch einmal verstärkt, wenn nach der 20-minütigen Einwirkzeit die Blutsperre aufgehoben wird und das angestaute Blut das Bein regelrecht flutet. Jetzt kommt es zu einer Hyperämie, einer Überversorgung mit Sauerstoff, was den Heilungsprozess zusätzlich unterstützt.
"Wenn das Blut nach Aufheben der Beinsperre ins Gewebe strömt, werden die noch weitgestellten Gefäße gut mit sauerstoffhaltigem Blut versorgt und zwar bis in die kleinsten Endgefäße und vor allem die Gefäße der Wundregion. Viele Patienten leiden ja unter schweren Durchblutungsstörungen, weshalb die Wundregionen schlecht bis gar nicht mit Blut versorgt werden. Durch die Hyperämie erzielen wir eine hohe Sauerstoffversorgung der infizierten Gewebe, die jetzt durch das Antibiotikum, aber auch durch den hohen Sauerstoffgehalt ausheilen können."
Dr. med. Inge Hugenberg, Fachärztin für Diabetologie und Innere Medizin, Ärztliche Wundexpertin, RoMed-Klinik Prien
In der Regel besteht ein Behandlungszyklus aus fünf RVP-Behandlungen, die an aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt werden. Bei schweren Wundinfektionen können auch mehr Behandlungen notwendig werden. Die Kosten für die RVP-Behandlung werden im Rahmen der Fallpauschale abgerechnet.
Nachsorge des Diabetischen Fußsyndroms
Das Behandlungskonzept des Diabetischen Fußsyndroms, wie es in der RoMed-Klinik in Prien etabliert wurde, umfasst darüberhinausgehend eine engmaschige Nachsorge der Patienten.
"Wir verzeichnen hohe Rezidivraten nach Ausheilung eines Diabetischen Fußsyndroms. Da sprechen wir von 30 Prozent im ersten Jahr nach Behandlung des Ulcus, 50 Prozent nach drei Jahren und 70 Prozent nach zehn Jahren. Das bedeutet, dass die Patienten sich regelmäßig einer Fußkontrolle unterziehen müssen, entweder täglich durch Selbstuntersuchung oder etwa alle vier bis sechs Wochen beim Hausarzt. So können wir kleine Verletzungen, etwa einen eingewachsenen Zehennagel schnell identifizieren und behandeln, bevor sich neue Geschwüre bilden. Die Patienten werden angehalten, bei der kleinsten Verletzung ihren Hausarzt aufzusuchen."
Dr. med. Inge Hugenberg, Fachärztin für Diabetologie und Innere Medizin, Ärztliche Wundexpertin, RoMed-Klinik Prien
Fehlstellungen der Füße begünstigen Geschwürbildungen
Eine Begleiterscheinung des Diabetischen Fußsyndroms ist die Veränderung der Fuß-Statik, des Knochen- und Gelenkapparates. Infolge der Polyneuropathie kommt es zu einer Verkürzung der Muskeln und Sehnen, und viele Patienten entwickeln sogenannte Krallenzehen bzw. Hammerzehen. Zusätzlich kann das Fußgewölbe einsinken. In der Folge entstehen neue Druckpunkte an den Fußsohlen, die der Belastung nicht Stand halten.
Um sich aufgrund der unnatürlichen Stellung vor Druck zu schützen, bildet der Fuß vermehrt Hornhaut, die regelmäßig abgetragen werden muss. Trotzdem entstehen genau an diesen Stellen der vermehrten Druckbelastung Geschwüre.
"Durch die Fehlstellungen entsteht Druck, und Druck befördert Wunden. Deshalb fertigen wir für Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom Entlastungsschuhe aus weichen Materialien, die individuell an die jeweilige Fußsituation angepasst werden. Wichtig ist, dass es nicht zu Reibungs- oder Druckpunkten kommt. Denn die Patienten merken nicht, wenn sie sich aufscheuern. Und dann würde ein neuerlicher Wundherd entstehen."
Christof Köck, Orthopädietechnikermeister, Rosenheim