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Ukraine Im Schatten des Krieges: Advent in Charkiw

Offiziell gilt seit Anfang September Waffenstillstand in den Kampfgebieten im Osten der Ukraine. Aber der ist äußerst brüchig. Über 1000 Menschen sind seitdem dort umgekommen.

Von: Manuela Roppert

Stand: 12.12.2014 | Archiv

Der Freiheitsplatz in Charkiw | Bild: BR

Charkiw ist nur 35 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Stimmung hier ist im Moment eher pro-ukrainisch, obwohl fast alle Einwohner im Alltag russisch sprechen. Im September wurde das Lenin-Denkmal am Freiheitsplatz von Demonstranten vom Sockel geholt. Die Situation kann aber jederzeit kippen.

Alltag im Schatten des Kriegs: fast jeden Sonntag schaut Jana Kurilo mit ihren Kindern im Gorki-Park vorbei - ein Riesenspaß, vor allem für die dreijährige Sabina.

Für ihre Kinder wünscht Jana sich wohl das gleiche wie alle Eltern. Aber hier - nur 200 Kilometer vom Kriegsgebiet entfernt - sind die Zweifel, die dabei mitschwingen, viel größer:

"Ich wünsche meinen Kindern, dass sie einmal in einem ruhigen stabilen Land leben werden, einen guten Beruf erlernen können, dass sie die Möglichkeit haben zu reisen und dass es keine Auseinandersetzungen mehr in unserem Land gibt und vor allem, keinen Krieg."

Jana Kurilo, Mutter von vier Kindern

Den Kindern ist zum Glück nicht bewusst, dass auch ihre Heimatstadt zu Beginn der Ukraine-Krise von pro-russischen Kämpfern destabilisiert werden sollte.

Wie in der russischen gilt auch in der ukrainisch-orthodoxen Kirche der julianische Kalender. Weihnachten ist deswegen 13 Tage später als bei uns. Die dann insgesamt 36 Meter hohe Tanne auf dem Freiheitsplatz wird erst in einigen Tagen fertig aufgestellt sein.

Und spätestens dann fiebern auch die Kinder in Charkiw auf Neujahr und Weihnachten hin. Sie können zu beiden Festtagen Geschenke erwarten.

Jana Kurilo

Um Sabina, Nikol, Kristina und Artjom die Wartezeit auf das Fest etwas zu verkürzen, macht Jana mit ihnen einen Ausflug auf den Baradaschowo-Markt. Sie hat ihren Töchtern ein Stofftier versprochen. Hier werden die Mädchen schnell fündig.

Was wünscht sich der 12-jährige Artjom zum Fest?

"Einen Baukasten von Lego!"

Artjom

Mit Ausgaben von umgerechnet rund 80 Euro rechnet Jana für die Geschenke in diesem Jahr - rund ein Viertel des monatlichen Familieneinkommens, viel Geld in dem krisengeschüttelten Land.

"Es ist nicht einfach, mit vier Kindern über die Runden zu kommen. Aber es gab auch schon schlimmere Zeiten. Da hatten wir gar kein Geld. Es ist schwer, aber wenn man sich wirklich anstrengt, kann man es schon schaffen."

Jana Kurilo

Oleg Kurilo

Janas Mann Oleg strengt sich an. Hier am Zentralen Markt der Stadt handelt er mit Tierfutter. Diesen Job hat er sich nicht selbst ausgesucht. Es hat sich einfach so ergeben. Oleg Kurilo hat vor einigen Jahren seine Arbeit als Ökonom in einer städtischen Behörde verloren. Ein Bekannter hat ihm den Platz hier am Markt vermittelt. Seine Kunden sind Menschen, die Zuhause ein paar Schweine, Kühe, Hühner oder Gänse im Stall haben. Im Schnitt verdient er damit 250 Euro monatlich. Das reicht im Moment gerade aus, um seine Familie ernähren zu können.

"Ach ja, zurzeit ist es kalt, aber viel Geld kommt nicht rein. Aber irgendwie muss man ja sein Geld verdienen und ich bin froh, dass ich hier die Möglichkeit dazu habe. Aber der Verdienst ist nicht stabil und ich weiß deswegen nicht, ob es in Zukunft zum Beispiel für die Ausbildung der Kinder reichen wird."

Oleg Kurilo, Händler

Für den Bau eines vergleichsweise großen Hauses am Stadtrand hat es gereicht. Dafür war aber viel Eigenarbeit nötig. Jana jobbt als Kosmetikerin und trägt damit auch zum Familieneinkommen bei. Die Gänse, Enten und Hühner - 45 Stück insgesamt - sind ihr Hobby, sagt sie. Aber das trifft es wohl nicht ganz: das Federvieh ist eigentlich für den Verzehr bestimmt. Zumindest der Weihnachtsbraten ist gesichert.

Richtige Adventsstimmung mag aber im Haus der Kurilos nicht aufkommen. Die Nachrichten, die täglich aus den umkämpften Gebieten um Donezk und Lugansk eintreffen, machen ihnen Sorgen. Und das Wissen, dass es Charkiw auch hätte treffen können und immer noch treffen kann, ist mehr als beunruhigend:

"Wissen Sie, wenn man diesen Krieg nur aus den Nachrichten kennt, ist das eine Sache. Aber wenn man tatsächlich Angst haben muss, dass der Krieg in Deine Stadt kommt, in Dein Haus, zu Deiner Familie, und man damit rechnen muss, dass man mit seinen Kindern auf dem Arm irgendwohin fliehen muss, dann ist das wirklich schrecklich. Inzwischen habe ich aber nicht mehr so viel Angst. Vielleicht gewöhnen wir uns langsam daran."

Jana Kurilo

An die Angst gewöhnen - geht das überhaupt? Der Ukraine-Konflikt scheint festgefahren. Den Bewohnern von Charkiw bleibt nichts anderes übrig, als sich damit zu arrangieren und die Adventszeit so weit es geht, zu genießen.


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