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Italien Ohne Inder kein Parmesan

Nein, wir sind nicht in Indien, auch wenn es so ausschaut. Wir sind auch nicht in Großbritannien, mit seinen vielen Indern als kolonialem Erbe. Wir sind in Italien, in der Poebene, in der Kleinstadt Luzzara, im Land des Parmesan, der nur hier hergestellt werden darf und der die Region reich gemacht hat.

Von: Andreas Miekisch und Alice Springfeld

Stand: 20.09.2015 | Archiv

Käserei | Bild: BR

Der Parmesan und die Inder

Überall große Käsereien und Milchbetriebe. Aber das Besondere: Die meisten Stallarbeiter sind Inder, mehr als 60 Prozent. Den Kühen kann es recht sein, denn vielen Indern sind sie heilig; eine bessere Behandlung können sie also gar nicht bekommen. Aber auch ihre indischen Betreuer fühlen sich hier wohl. Ganze Familien sind in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem landwirtschaftlich geprägten Punjabtal gekommen. In Luzzara ist bereits etwa jeder siebter Einwohner indischer Abstammung. Einer von ihnen ist Pal.

"Ich bin im Jahr 2000 auf der Suche nach Arbeit hergekommen. Italien hat damals zum ersten Mal die Tore für legale Einwanderer geöffnet. Man konnte eine Art Bürgschaft hinterlegen für die Lebenshaltungskosten in Italien, umgerechnet etwa 5000 Euro, und wenn man innerhalb eines Jahres eine Arbeit gefunden hatte, durfte man bleiben. Andernfalls wurde mit dem hinterlegten Geld der Rückflug bezahlt und man kam wieder zurück nach Hause."

Pal

Vom Stallknecht zum Käsefacharbeiter

Pal

Inzwischen hat sich Pal vom Stallknecht zum Käsefacharbeiter hochgearbeitet, ist stolz darauf, dass er und seine Landsleute dem Parmesan seine Qualität und das Renommee sichern. In vielem denkt er schon richtig italienisch, auch was den Flüchtlingsansturm anbelangt, der seit Jahren übers Land rollt.

"Das ist schlimm, mit den Illegalen, die heimlich mit den Booten kommen. Jetzt, wo Italien selber so in der Krise steckt und es keine Arbeit gibt. Italien braucht die Ausländer nicht und wenn es sie brauchen würde, dann wäre es besser, sie kämen ganz legal mit richtigen Dokumenten. Aber so wie das jetzt ist, wie man das im Fernsehen sieht, jeden Tag ein neues Boot und immer wieder Tote – nein, das ist wirklich nicht in Ordnung."

Pal

Vincenzo Manfredini

Pals Chef, Vincenzo Manfredini, exportiert in die ganze Welt. Ohne die Inder, die nicht nur billig, sondern auch überaus sorgfältig und zuverlässig arbeiten, hätte die Parmesanproduktion extreme Schwierigkeiten. Deshalb werden die ehemaligen Flüchtlinge aus Indien auch von den Italienern hoch geschätzt. Und jeder bewundert, wie gut sie sich integrieren.

Gut integriert

Pal zum Beispiel schickt seine Kinder ganz bewusst nicht in den Gemeinde-Kindergarten, weil ihm da zu viele indische Kinder sind und er Angst hat, dass seine eigenen mit denen nur in ihrer Heimatsprache reden. Das möchte er auf jeden Fall verhindern. Und deshalb gehen seine Kinder in den katholischen Kindergarten, wo die übergroße Mehrheit Italiener sind, damit sie auch gezwungen sind, italienisch zu sprechen.

Rund 60.000 Inder leben inzwischen in der Poebene. Nach Großbritannien sind sie die zweitgrößte indische Gemeinde in Europa. Im Nachbarort Novellara steht der zweitgrößte Sikh-Tempel Europas. Und obwohl sich jeden Sonntag rund 2000 Gläubige hier einfinden, hat es noch nie Beschwerden gegeben. Im Gegenteil: als 2012 ein starkes Erdbeben die Emilia Romagna erschüttert hat, waren es die Sikhs, die als erste zur Stelle waren. Tempeldiener Amrit erinnert sich:

"Nachdem die Mensa unseres Tempels sowieso immer rund um die Uhr geöffnet ist, konnten wir die Erdbebenopfer jederzeit mit Essen versorgen. Und dann haben wir gemerkt, dass das Rote Kreuz zu wenig Krankenwagen hat. Da haben wir der Sektion Novellara einen gestiftet."

Amrit

Der Sikh-Tempel steht allen offen, Buddhisten und Hindus genauso wie Katholiken, Protestanten und selbst Nicht-Gläubigen. Einzige Voraussetzung: jeder, der ihn betrifft, muss sich die Füße waschen und einen Turban aufsetzen. Aber selbst da ist man großzügig, für Italiener darf's auch mal ein lässig zusammengebundenes Kopftuch sein.

Integration ohne Zwang

So gelingt hier in Oberitalien etwas, das in Europa zurzeit so schwierig zu sein scheint – Integration ohne Zwang und ohne verordnete Programme von oben.

Diese Kinder gehören bereits zur dritten Generation an Indern, die in der Emilia Romagna leben. Die Einwanderung begann vor 30 Jahren: Es herrschte Bürgerkrieg im Punjab. 1984 wurde der „Goldene Tempel“, das größte Heiligtum der Sikhs von Regierungstruppen gestürmt und niedergebrannt. Nun beten sie hier.

"Die beste Zeit zum Beten ist ganz früh morgens, so ab drei Uhr, wenn die meisten noch schlafen. Gerade dann kann man sich am besten konzentrieren. Genau das ist aber auch die Zeit, zu der die Stallarbeit beginnt. So kann man durchaus sagen, dass das extrem frühe Aufstehen für die Arbeit im Stall den Gläubigen bei der Religionsausübung förderlich ist."

Amrit

Und da freuen sich auch die Kühe. Beten und arbeiten ist für Hindus und Sikhs kein Widerspruch, wichtig ist, den Geist frei zu haben. Hinzu kommt, dass ihnen die Kühe ja heilig sind. So fügt sich alles wunderbar: Die Kühe wollen früh gemolken werden, und während das für uns fast unzumutbare Arbeitszeiten sind, ist dies für die Sikhs spirituelle Inspiration. Fünf Gebete sollen sie am Tag verrichten, drei davon in den frühen Morgenstunden. Im Stall ergibt sich das von selbst: Morgens um Sechs, wenn die Milch verarbeitet wird, ist die religiöse Pflicht bereits zu mehr als der Hälfte erfüllt.

Die Inder nehmen den Italienern keine Arbeit weg

Serafino Bosselli ist in den 1980ern, nach 40 Jahren Nachtarbeit im Stall, in die Fabrik gegangen; wie viele andere auch. Das Leben als Stallknecht ist ihm zu viel und auch zu kompliziert geworden:

"Heute ist alles ganz anders. Vor allem passen die Besitzer auf ihre Kühe besser auf. Wenn sich eine Kuh irgendwo verheddert, rufen sie gleich den Tierarzt. Früher mussten wir das selbst hinkriegen – Tierärzte gab's da so gut wie nie!"

Serafino Bosselli

Gut, dass die Inder gekommen sind, denn nur noch wenige Italiener wollen sich heute die Arbeit im Stall antun. Ohne die Flüchtlinge von damals gäbe es den Parmesan vielleicht gar nicht mehr oder er wäre unerschwinglich teuer. Die rund 60.000 indischen Einwanderer, allein in der Poebene, tragen zur Zukunft der gesamten Region bei. Ein Modell auch für den Flüchtlingsansturm in Europa heute?


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M. Giese, Sonntag, 20.September 2015, 09:42 Uhr

1. Schade, toller Artikel leider bleiben wichtige Dinge offen

Schade, eigentlich ein toller Artikel. Leider geben die offenen Fragen Gegner von Einwanderung nur neue Nahrung. Es wurde zwar der Punkt angesprochen, dass die Mehrheit der Italiener im 21. Jahrhundert andere Arbeitsplätze und Arbeitszeiten vorzieht und die dabei entstehende Lücke durch die eingewanderten Inder geschlossen wurde. Dies ist meiner Meinung nach auch auf Deutschland übertragbar. Jedoch sind keine Informationen über die Bezahlung in historischer sowie aktueller Sichtweise zu finden. Sind die dabei zu erzielenden Löhne und Gehälter im Europa des 21. Jahrhunderts angemessen? Sind sie ausreichend zur Ernährung einer Familie? Sind die Arbeitszeiten den gegebenen Anforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geeignet? Welche italienischen Gesetze würden Deutschland gut stehen um Einwandern den Weg nach Deutschland zu erleichtern und gleichzeitig Gegner von Einwanderung ihrer Argumente berauben?