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Frankreich Leben in unsicheren Zeiten

Auch im sonst so behäbigen Straßburg herrscht jetzt Ausnahmezustand: Zwei Monate nach den jüngsten Attentaten von Paris hat man hier noch nicht zum business as usual zurückgefunden.

Von: Manuela Roppert

Stand: 10.01.2016 | Archiv

Menschen auf der Straße | Bild: BR

In den Gassen der pittoresken Altstadt patrouilliert die Polizei:

"Ich finde, die Überwachung gibt uns mehr Sicherheit. Man muss ja irgendwas machen. Die Bedrohung ist überall."

Eine Frau

"Mir macht es Angst, wenn ich überall Polizisten mit Maschinengewehren sehe."

Ein Mann

Geiselnahme in Paris: der Supermarkt "Hypercacher"

Nur ein paar Kilometer nordöstlich vom Zentrum, im jüdischen Viertel der Stadt: die Synagoge wird schon seit einem Jahr, seit der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris, rund um die Uhr von mehreren Polizeieinheiten bewacht. Es war in einem koscheren Laden wie diesem: die dramatischen Ereignisse vor einem Jahr, bei dem vier der Geiseln starben, wirken auch in Straßburg immer noch nach. Aber die Stimmung ist hier nicht ganz so angespannt wie unter den Juden in der Hauptstadt:

"Wir sind nach den Ereignissen aus Paris hierhergezogen. Wir hoffen, dass wir hier, etwas weiter weg von den beängstigenden Vorfällen, sicherer sind als in der Hauptstadt."

Yaёle Bendrihem

"Wir sind hier in Straßburg offensichtlich stärker geschützt. Trotzdem versetzten uns die Ereignisse von Paris natürlich in Sorge."

Nathalie

"Man kann doch als Jude nicht hier bleiben, in einem Land, das uns nicht ausreichend schützen kann."

Albert Levy

Jüdisches Lebensmittelgeschäft in Straßburg

Die junge Mutter Yaёle Bendrihem will dennoch in Frankreich bleiben. Aber fast 8000 Juden haben 2015 das Land in Richtung Israel verlassen. In Straßburg ist die Ausreisewelle jedoch verhältnismäßig klein.

"Hier draußen sind links und rechts zwei jüdische Schulen, die ständig vom Militär geschützt werden. Dadurch fühlen wir uns hier verhältnismäßig sicher. Natürlich sind wir schockiert über die Ereignisse von Paris, aber nicht stärker als anderswo."

Samuel Levy, Kassierer Koscherer Supermarkt Buchinger

Yaёle Bendrihem ist mit ihren beiden Söhnen und ihrem Mann erst vor einigen Monaten von Paris nach Straßburg gezogen – nicht nach Israel. In Paris hatte sich die Familie zunehmend bedroht gefühlt und in Nizza konnte Yaёles Mann, ein Banker, keine Arbeit finden. In das gelobte Land will die junge Frau auf keinen Fall. Dort kann sie ihren modernen Glauben nicht so leben wie hier. Außerdem fühlt sich die Grafikdesignerin der französischen Kultur und Lebensart verbunden.

"Wir haben Straßburg gewählt, weil hier die ökonomische Situation besser ist als in anderen französischen Städten. Außerdem gibt es in Straßburg gute jüdische Schulen und einen starken Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinde. Auch deswegen fühlen wir uns hier viel sicherer als in Paris."

Yaёle Bendrihem, Grafikdesignerin

Straßburg ist eine der größten und wichtigsten jüdischen Gemeinden Frankreichs, ja ganz Europas. Ihre Geschichte reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück. Die Juden wurden als Geldverleiher ins damals prosperierende Straßburg geholt. Die deutschen Domstädte entlang des Rheins - neben Straßburg noch Speyer, Worms und Mainz - waren im Mittelalter bedeutende jüdische Zentren. Straßburg ist es heute noch trotz Judenpogromen und Holocaust. Schon nach dem Ersten Weltkrieg strömten viele Juden aus Osteuropa in die elsässische Stadt. Sie fühlten sich hier schnell heimisch, weil das Elsässische dem Jiddischen, das im osteuropäischen Schtetl gesprochen wurde, sehr ähnlich ist. Seit den 1960er Jahren kamen noch viele Juden aus Nordafrika hinzu, die ihre Herkunftsländer wegen antisemitischer Tendenzen verlassen hatten.

"Es bestand natürlich das Risiko, dass sich die einzelnen Gemeinden voneinander abkapseln. Aber unsere jungen Menschen heiraten einander, egal ob sie nun aus Polen, aus der ehemaligen Sowjetunion, aus dem Elsass oder aus Nordafrika stammen. Da findet ein reger Austausch statt."

René Gutman, Oberrabbiner von Straßburg und dem Unterelsass

Der jüdische Friedhof im Stadtteil Cronenburg wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Begräbnisstätte genutzt. Eigentlich ein Ort des Gedenkens, wird er immer wieder Ziel von Grabschändungen und antisemitischen Schmierereien. Dabei hatten die französischen Juden gehofft, so etwas nicht wieder erleben zu müssen.
Die alte Synagoge am Kleberufer wurde von den Nazis 1941 dem Erdboden gleichgemacht. Auf Initiative der jüdischen Dachorganisation Crif wurde hier 2012 zum Gedenken die Allee der Gerechten eingeweiht. Pierre Levy, Regionalvertreter der Crif, ist wegen des zunehmenden Antisemitismus in Frankreich in Sorge:

"Am weitesten verbreitet sind Aggressionen und Gewalt gegen Menschen, die zum Beispiel eine Kippa tragen oder andere Zeichen des jüdischen Glaubens. Es gibt auch Aktionen gegen Synagogen, vor allem Schmierereien, und immer mehr Publikationen, die Juden verunglimpfen."

Pierre Levy, Regionalvertreter der Crif

Allein in den ersten fünf Monaten des letzten Jahres sind mehr als 500 solcher Übergriffe bekannt geworden. Oft sind radikale Muslime die Täter.

Im sonst so beschaulichen Straßburg gibt es ähnliche Probleme wie in den Banlieues von Paris, nur dass hier die Trabantenstädte Neuhof oder Meinau heißen. Die tristen Wohnblöcke sind wie in Paris überwiegend von Muslimen bewohnt. Sie kamen in den 1960 und 70er Jahren, als die elsässische Industrie händeringend Arbeitskräfte suchte. Auch hier sind in der Krise nun die meisten arbeitslos und ohne Perspektive. Das birgt großen sozialen Sprengstoff.

"Das ist alles wieder ein Komplott gegen die Muslime, die man dann wieder durch den Dreck zieht. Und ein echter Moslem macht solche Sachen nicht."

Mejid

Zurück im jüdischen Viertel von Straßburg, das es so kompakt in Frankreich kein zweites Mal gibt. Zwar leben in Paris oder Marseille insgesamt mehr Juden als hier. Sie sind dort jedoch über die ganze Stadt verstreut.
Vor allem am Sonntag ist das koschere Restaurant "Le King" gut gefüllt. Inhaber Michel Abitol ist aus Marokko eingewandert. Bei der Zubereitung der Speisen achtet er unter anderem darauf, dass Milch- und Fleischprodukte nicht vermischt werden. Ein koscheres Restaurant zu führen, ist ein schwieriges Geschäft, weil der Kundenkreis begrenzt ist. Doch hier in Straßburg kann sich das "Le King" schon seit Jahren gut behaupten.

"Hier besteht eine bedeutende jüdische Gemeinde. Und es gibt viele Juden, die hierher zu Besuch kommen, Urlaub machen, auf der Durchreise sind, also viele potentielle Kunden."

Michel Abitol, Inhaber Le King

Staatspräsident Hollande bei einem Festakt für getötete Polizisten

Die Juden in Straßburg sind mit den gleichen Bedrohungen konfrontiert wie ihre Glaubensgenossen in Paris: zunehmender Antisemitismus, perspektivlose und radikalisierte Muslime sowie die Gefahr von Terroranschlägen. Durch den starken Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinde lassen sich aber die Anfeindungen im Alltag besser überstehen. Deswegen ist hier die Zahl der Ausreisen nach Israel vergleichsweise gering.


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