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Ungarn Budapest und seine Juden

Budapest – Metropole an der Donau. Angéla Rádi und ihre Heimatstadt, die ihre Familienchronik geprägt hat – in guten wie in schlechten Zeiten.

Von: Birgit Muth

Stand: 03.04.2016 | Archiv

Budapest | Bild: BR

Wie ihre Vorfahren, so waren die ungarischen Juden insgesamt in den letzten Jahrhunderten immer wieder Verfolgung, Leid und Unheil ausgesetzt. Dabei hat die jüdische Bevölkerung viel zur kulturellen und wirtschaftlichen Kraft und zum Glanz Budapests beigetragen.

Ráchel Raj und Angéla Rádi

Heute zählt die jüdische Gemeinde mit geschätzten 100.000 Mitgliedern zu den lebendigsten in Europa. Und jüdisches Selbstbewusstsein ist allerorten sichtbar und spürbar. Ob Zuckerbäckerin Ráchel Raj oder Immobilienmaklerin Angéla Rádi – sie sind beide Botschafterinnen für die Vielfältigkeit der ungarischen Gesellschaft. Ráchels süßestes Argument: ihr Schichtengebäck Flódni. Und Angela weiß um die Symbolkraft des Kuchens.

"Ich bin der Meinung, dass im Flódni alles drin ist, was wir repräsentieren, vor allem hier in Osteuropa. Das ist der Fingerabdruck unseres Judentums, dieser Kuchen."

Angela Radi

Auch den katholischen Kaplan László Gáyer zieht die Café-Atmosphäre an. Christlich, jüdisch, ungarisch – aus dem Zusammenspiel wird eine besondere Komposition:

"Meine Mutti macht das auch Zuhause. Ich habe eine katholische Familie."

Kaplan László Gáyer

"Aber Flódni ist jüdisch?"

Reporterfrage

"Ja, aber das war eine Mode, bei uns Zuhause auch."

Kaplan László Gáyer

Die große Mehrheit der ungarischen Juden, rund 80.000 Menschen, lebt in der Hauptstadt. Hier in der Elisabethstadt hat das jüdische Leben viele Spuren hinterlassen. Nach dem Ende des Ostblocks wurde die große Synagoge, die größte in Europa, mit staatlichen und ausländischen Geldern restauriert und ist jetzt wieder das Zentrum der ungarischen Juden. Angela Radi kommt oft hierher, an diesen Ort, der weltweit als Symbol für Frieden und Toleranz gilt. Immer hält sie am Jüdischen Friedenhof inne, um der hier begrabenen Opfer des Holocaust zu gedenken: 565.000 Juden fanden in Ungarn den Tod.

Über Stolpersteine führt der Weg zu Angelas Eltern, die Budapest nie den Rücken kehrten. Àgnes Rádi und Ehemann Istvàn fürchten sich auch jetzt wieder vor Antisemitismus, denn fremdenfeindliches Gedankengut ist unter der rechtspopulistischen Regierung Orbáns salonfähig geworden.

"Ich habe Angst davor, jüdische Symbole wie den Davidstern offen zu tragen. Meinen Kindern habe ich das auch verboten, weil dadurch auf der Straße nur Probleme entstehen können."

Istvàn Rádi, Angélas Vater

Seit die rechtspopulistische Fidesz-Partei vor sechs Jahren an die Macht kam, macht sich Nationalismus und eine Anti-Stimmung nicht nur gegenüber Flüchtlingen, sondern gegenüber allem Fremden breit.

Hier an der Pädagogischen Fakultät mitten im jüdischen Viertel hat András Fehérvári seinen Master bestanden. Zuvor war der 38-jährige Jude eine Zeit lang Geschäftsmann. Er wird nun in Lissabon für seine Doktorarbeit wissenschaftlich arbeiten und benötigt dafür noch ein einige Unterlagen von seiner alten Uni. Er geht nicht nur der Karriere wegen ins Ausland.

"Die Machthaber wollen ihre Macht so sehr behalten, dass sie Hass schüren. In Ungarn kann er sich gegen Roma oder Juden richten und jetzt auch gegen die Flüchtlinge. Wenn ich jetzt weggehe, dann nicht direkt wegen des Antisemitismus. Wir sind jetzt nicht dran, aber nächstes Mal sind es vielleicht wieder die Juden, die dran sind."

András Fehérvári

Vor dem Mahnmal für das jüdische Ghetto, das während der deutschen Besatzung 1944 an dieser Stelle errichtet wurde, verharren vor allem Touristen. András kennt die Geschichte des Budapester Judenghettos schon seit seiner Kindheit, deswegen geht er direkt in den koscheren Supermarkt nebenan, dessen Besitzer er persönlich kennt.

"Es gab eine Zeit, da habe ich die Kipa fast täglich getragen. Tut, gut. Diese gefällt mir."

András Fehérvári

András schaut hier im koscheren Supermarkt nur selten vorbei. Er schätzt es dennoch, dass es dieses Geschäft im Viertel gibt. Die Lebensmittel, überwiegend aus Israel importiert, sind sehr teuer. Deswegen spenden wohlhabendere Mitglieder der jüdischen Gemeinde, um die ärmeren, die sich koscher ernähren wollen, zu unterstützen.

"Haus der Schicksale"

Besuch des ehemaligen Josefstädter Bahnhof: Von hier aus wurden 1944 viele Juden in Konzentrationslager deportiert. Die ehemaligen Schwellen der Bahngleise und die Deportationswagen wurden verbaut und zum Museum umfunktioniert. Das sogenannte "Haus der Schicksale" sollte zum ungarischen Holocaust-Gedenkjahr 2014 eröffnet werden. Bis heute ist das Museum für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Doch die ehemaligen Deportationswagen sprechen ihre eigene Sprache.

"Ja, wir haben Angst davor, dass es wieder vorkommen kann in Ungarn."

Angéla Radi

Aber Angéla weiß auch um die stärkste Waffe gegen Rechtspopulismus und Antisemitismus: Das neue Selbstbewusstsein der engagierten und sich bekennenden jüdischen Gemeinde in Ungarn.


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