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Türkei Entlassen – und was dann?

Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden auch viele Universitätsdozenten entlassen. Die Akademiker stehen vor dem Nichts und sind gezwungen sich umzuorientieren. Katharina Willinger hat einige von ihnen getroffen.

Von: Katharina Willinger

Stand: 14.01.2018 | Archiv

Demonstration in Istanbul | Bild: BR

Ulaş Bayraktar

Noch sitzt nicht jeder Handgriff. Ulaş Bayraktar steht erst seit einigen Monaten hinter dem Tresen. Im Frühjahr 2017 wurde der Politikdozent per Dekret entlassen. Er hatte die sogenannten Friedenspetition türkischer Akademiker unterzeichnet. Er erhielt Berufsverbot, eine Ausreisesperre und ist raus aus dem Sozialsystem: Kein Arbeitslosengeld, später auch keine Rente. Zusammen mit anderen entlassenen Kollegen hat er inzwischen ein eigenes Café in der Stadt Mersin eröffnet – mit Bibliothek. Kültürhane, Kulturhaus haben sie es genannt. Regelmäßig finden hier Workshops und Lesungen statt. Wissen teilen, einen Ort zum Lernen, Diskutieren und kritischen Hinterfragen bieten, das war Ulaşs Wunsch.

"Für mich sind das hier die Samen der Hoffnung. Ob sie aufgehen oder verdorren, das wissen wir noch nicht. Aber bislang blüht hier alles. Und wir erhalten sehr viele Nachrichten, in denen uns die Leute sagen: Ihr habt uns wieder Hoffnung gegeben."

Ulaş Bayraktar

Cansu Mert

Täglich bekommt Ulas Besuch von ehemaligen Studenten, die weiter seine Betreuung suchen. Auch Cansu gehört dazu. Am Wochenende kellnert sie hier. Vier Jahre lang war Ulas ihr Dozent. Seine Entlassung habe sie so sehr demotiviert, dass sie eine Weile gar nicht mehr zur Uni ging. Als Ulas ihr von Kültürhane erzählte, wollte sie unbedingt mitmachen.

"Hier lerne ich jeden Tag etwas dazu. Ich sehe das hier gar nicht als Arbeit. Wir reden, lesen Bücher, wir tauschen unsere Meinungen aus, über Politik aber auch über andere Themen. Dieser Ort tut mir richtig gut."

Cansu Mert, Studentin

Lesung im Kulturhaus

Eine Insel der Hoffnung, nennt Ulas das Café. Die Arbeit hier gäbe ihm Kraft und lenke ihn von privatem Kummer ab: Seit acht Monaten hat er seine Frau nicht mehr gesehen. Sie arbeitet an einer Uni in Deutschland. Er darf nicht ausreisen. Sobald sie in die Türkei kommt, droht ihr das auch.

"Ich schicke ihr täglich E-Mails, wie ein Tagebuch. Wenn sie zurückkommt, soll sie jedes Detail dieses Ortes kennen, jedes Detail unseres Lebens nachdem sie fortging. Haben sie die Papiervögel gesehen? Sie schickt sie mir aus Deutschland. Aber unsere Trennung ist für mich das schlimmste an dieser ganzen Sache."

Ulaş Bayraktar

In der Hauptstadt Ankara steht das Ehepaar Cem und Müslüme Cinar vor dem beruflichen Scherbenhaufen. Die Grundschullehrer wurden vor knapp einem Jahr entlassen. Jetzt schlagen sie sich mit einem kleinen Imbiss durch. 686 – die Nummer des Dekrets mit dem sie entlassen wurden, prangt an ihrer Ladentheke. Galgenhumor angesichts ihrer wirtschaftlichen Lage.

"Wir haben unser Auto verkauft, um diesen Laden eröffnen zu können. Wir haben zwei Kinder und müssen ja irgendwie über die Runden kommen."

Cem Cinar

Müslüme und Cem Cinar mit Kemal Inal

Heute haben sie Besuch von Kemal Inal. Der Kommunikationswissenschaftler sammelt die Geschichten entlassener Akademiker, um sie in einem Buch zu veröffentlichen. Und ja, auch er wurde im Ausnahmezustand entlassen. Jetzt will er zumindest einigen der rund 40.000 entlassenen Lehrern und Dozenten ein Gesicht geben.

"Viele Leute, die Opfer der Dekrete wurden, tauschen sich mittlerweile aus. Wir teilen unsere Sorgen, und es entsteht eine Art Solidarität, eine Form des Widerstands. Es geht nicht nur darum, in diesen Laden zu kommen, um etwas zu essen, sondern was noch wichtiger ist: Es geht auch um politischen und persönlichen Austausch."

Kemal Inal

Um Solidarität und Widerstand geht es auch auf dieser Demonstration in Istanbul. Akademiker und Journalisten protestieren gegen Entlassung und Zensur. Auch Ulaş Bayraktar, der ewige Optimist, ist extra von Mersin nach Istanbul gekommen.

"Es ist nicht leicht. Es ist wirklich nicht leicht, der ewige Optimist zu sein. Manchmal tut es gut, einfach zu sehen, dass man nicht der einzige Dumme, der einzige Narr ist. Es gibt auch andere Narren hier. Sie zu sehen, hilft, dass man den Glauben an sich selbst nicht verliert. Man tankt Kraft, um nicht unterzugehen und den Kampf weiterzuführen."

Ulaş Bayraktar

Kraft wird Ulas Bayraktar brauchen: Gegen jeden Akademiker, der damals die Friedenspetition unterzeichnete, soll nun auch rechtlich vorgegangen werden. Seit Dezember laufen die ersten Prozesse. Angst hat der Wissenschaftler nicht, sagt er. Er sei schließlich Optimist.


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