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Grönland Wo aus Jägern Bauern werden

Grönland, das heißt "Grünland". Was für ein bizarrer Name für eine riesige Insel, die zu 82 Prozent aus schierem Eis besteht.

Von: Dirk Schraeder

Stand: 02.08.2015 | Archiv

Landschaft | Bild: BR

Millionen Jahre war diese karge Wunderwelt aus Eis und Schnee stabil. Doch jetzt verändert sie sich.

Es ist wärmer geworden auf Grönland: In den letzten zehn Jahren stieg die Temperatur um durchschnittlich 1,5 Grad Celsius. Im Sommer 2012 werden auf Grönland erstmals Erdbeeren geerntet.

Vorbei! Schon wieder! Dabei hat Enos Kuko so lange auf diesen Tag gewartet. Vater Mala ist mit dem zehnjährigen Enos ins Eis gefahren. Heute soll es endlich soweit sein: heute soll Enos seine erste Robbe schießen. Nach der Tradition der Inuit, der grönländischen Ureinwohner, macht die erste Jagdbeute einen Jungen zum Mann.

Grönland ist die größte Insel der Welt und etwa sechsmal größer als Deutschland. In den nächsten Wochen wollen wir erfahren, wie sich der Klimawandel auf das tägliche Leben der grönländischen Inuit auswirkt. Unsere Reise beginnt in Tasiilaq, der Hauptstadt der grönländischen Ostküste. Und hier lebt auch Mala Kuko mit seiner Familie.

Enos hat mit seinem Vater Mala Schießen geübt. Dies ist sein letztes Testziel. Seit Jahren wird das Meerwasser hier wärmer. Mala sieht mit Wehmut, wie sich seine Heimat verändert.

"Der Klimawandel ist sehr traurig für uns. Meine Kinder werden mit deutlich weniger Eis aufwachsen als ich. Dieses Jahr gab es zwar wieder etwas mehr Eis als im letzten. Aber wie oft wir das noch erleben? Ich weiß es nicht."

Mala Kuko

Hier, an der Ostküste Grönlands, leben die Inuit noch sehr traditionell. Mala und seine Frau haben fünf Kinder – importiertes Schweine- oder Rindfleisch aus dem Supermarkt ist viel zu teuer für sie. Wie bei fast allen Nachbarn kommt auch bei den Kukos vor allem die eigene Jagdbeute auf den Tisch.

Einfahrt in die Bucht von Ikateq. Vor zwei Jahren hat der letzte Einwohner aufgegeben und die winzige Siedlung verlassen. Seine Vorfahren lebten hier Jahrhunderte im Einklang mit der Natur. Doch der letzte Jäger fand nicht mehr ausreichend Beute, um davon leben zu können. Seither ist Ikateq eine Geistersiedlung. Mala steuert die Siedlung an, um hier eine Pause von der Jagd einzulegen.

Bisher hat Mala Enos und dessen 12-jährigem Bruder Cora vor allem Tipps zum Jagen und Fischen gegeben. Jetzt aber bricht sein Beruf in ihm durch, Mala ist Lehrer. Also zeigt er seinen Jungs die Dorfkirche.

Im benachbarten winzigen Klassenzimmer scheint die Zeit stehengeblieben. Hier ging Enos Oma zur Schule. Das letzte Kind wurde vor 40 Jahren unterrichtet; im Schulatlas ist die Sowjetunion quicklebendig.

Auch Mala merken wir bei der Heimkehr zum Hafen die Enttäuschung an. Aber unter dem Strich ist er froh, dass seine Kinder überhaupt noch auf die Jagd gehen.

In den nächsten Tagen wird er wieder mit Enos durch den grandiosen Eisgürtel streifen – und dann wird es schon klappen, hofft Mala bei unserem Abschied.

"Tunu" nennen die Grönländer ihre Ostküste, was man leicht beschönigend mit "Rückseite" übersetzen kann. Tasiilaq ist mit 1900 Einwohnern die Hauptstadt Tunus und Tasiilaq hat viele Probleme. Das Größte: es gibt keine Arbeit für die jungen Leute hier.

Alkoholmissbrauch, Kindesmisshandlung und die Jugendarbeitslosigkeit haben Tasiilaq einen traurigen Rekord beschert: die Stadt liegt auf Rang Zwei der internationalen Statistik jugendlicher Selbstmörder. 2008 haben hier innerhalb von zwei Wochen 15 Jugendliche versucht, sich das Leben zu nehmen.

Wir verlassen Tasiilaq und fliegen weiter zur Westküste. Seit einigen Jahren kann man die Folgen der Klimaerwärmung mit bloßem Auge vom Flugzeug aus sehen: Auf dem Inlandseis bilden sich Seen aus Schmelzwasser, die irgendwann durch Spalten im Eis wieder verschwinden. Dieses Schmelzwasser fließt dann unter dem Gletschereis in Richtung Küste. Folge: die Gletscher rutschen darauf, quasi wie auf einem Ölfilm, noch zügiger als ohnehin schon.

Die gestiegenen Temperaturen verändern auch den Alltag der Inuit an der Westküste Grönlands. Ziel unseres Fluges ist Ilulissat. Tausende Touristen kommen jährlich, um die spektakuläre Natur hier in Grönlands Westen zu erleben.

Grönland hat 57.000 Einwohner und fast alle kennen diesen Mann: Ville Siegstadt. Ville hat viel erlebt in den zurückliegenden 65 Jahren: grönländischer Meister als Hundeschlittenführer und als Fußballspieler, bekannter Künstler und ehemaliger Fischer. In so ein Leben passt kein Stillstand. Ville hat uns auf sein Boot eingeladen, und will uns unbedingt etwas in Kangerluk zeigen, einem entlegenen Dorf auf der Insel Disko.

Ville Siegstadt und Suulut Kristiansen

Hier treffen wir Suulut Kristiansen. Noch vor wenigen Jahren schien Suuluts Leben verpfuscht: er war ein notorischer Säufer und verschmähte auch härtere Drogen nicht. Dann kam der Klimawandel und aus Suulut dem Säufer, wurde Suulut der Bauer.

Diese Kartoffelpflanzen sind eine kleine Sensation. Suuluts drei Äcker liegen knapp 300 Kilometer oberhalb des Polarkreises. Das hier sind die vermutlich nördlichsten Kartoffeln der Welt.

"Ich habe das hier selber hochgezogen und alles aus eigener Tasche finanziert, ohne jede staatliche Unterstützung. Ich habe deshalb sogar mit dem Alkohol und den Drogen aufgehört. Statt mein Geld dafür auszugeben, habe ich alles in meine drei Felder investiert. Ich habe ganz neu angefangen und bald fahre ich meine erste Kartoffelernte ein."

Suulut Kristiansen

Nein, Suluut möchte keine seiner Kartoffeln für uns ausbuddeln. Für einen Moment haben wir übersehen, dass er hier nur 47 Kartoffelpflanzen umhegt. Dennoch: der Neubauer träumt schon davon, seine üppig wuchernden Knollen global zu vermarkten.

"Mein Ziel ist der Export in andere Länder. Ich baue Biokartoffeln an. Und weltweit wollen die Leute doch mehr gesunde Produkte essen. Meine Kartoffeln werden vielleicht nicht so groß, aber sie sind vollkommen biologisch angebaut und kommen vom nördlichsten Ende der Welt – das könnte doch ziehen, oder?"

Suulut Kristiansen

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber Suulut ist so begeistert von seinem Kartoffelprojekt, dass Ville ihn nicht mit schnöden Bedenken behelligen will.

Wenn ihr richtigen grönländischen Sommer erleben wollt, dann müsst ihr unbedingt in den Süden reisen, hat uns Ville zum Abschied gesagt. Also verlassen wir Ilulissat und tatsächlich, je näher wir unserem Ziel im Süden, Narsarsuaq, kommen, desto grüner und saftiger wird die Landschaft.

Schon vor über 1000 Jahren haben die Nordmänner diesen Boden erfolgreich bestellt. Im Jahr 985 kam Eirikur Thorvaldson, genannt "Erik der Rote", mit Siedlern aus Island hierher. Die Grundmauern seines Hauses kann man noch heute sehen. Die christlichen Nordmänner besuchten winzige Kapellen; heute steht in Qassiarsuk ein originalgetreuer Nachbau. Um das Jahr 1500 verschwand die Kultur der Nordmänner auf Grönland. Die Gründe dafür sind bis heute heftig umstritten.

Die Ankunft in Eqaluit Ilua gestaltet sich etwas schwierig. Man kann nur per Boot hierher kommen, aber einen Anlegesteg gibt es nicht – den würden die Eisschollen abrasieren. Jetzt, Anfang August, ist es hektisch – die Heuernte muss eingebracht werden, solange es trocken ist.

Bauer Ferdinand Egede ist angespannt. Neben dem Kartoffelanbau hält Ferdinand auch 1200 Schafe, die derzeit frei im Gelände herumstreifen. Für die Schafe braucht er trockenes Heu. Je mehr Heu die Egedes einfahren, desto wenig teures Futter müssen sie importieren.

Sohn Urjaneq kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Und für die Zukunft hat er revolutionäre Pläne:

"Wir denken gerade darüber nach, ob wir uns als erste Bauern auf ganz Grönland, Kühe anschaffen. Ich glaube, das könnte ein ziemlicher Erfolg werden."

Urjaneq Egede

Einige Nachbarn halten die Idee mit den Kühen für ein bisschen - plemplem. Aber das haben die gleichen Nachbarn auch gedacht, als die Egedes 1997 begannen, direkt an der Eisbucht Kartoffeln anzubauen. Die letzte Ernte brachte 93 Tonnen auf die Waage: Rekord! Und die Nachbarn sind inzwischen ziemlich ruhig geworden. Die Familie verkauft ihre gesamte Ernte hier auf Grönland. Aber noch muss die Insel Kartoffeln importieren.

Ferdinand glaubt, dass sein Bauernhof von der Klimaerwärmung profitiert. Die drohenden Gefahren hält er für nicht so dramatisch.

"Die zunehmende Wärme hilft uns doch! Das Problem ist der fehlende Regen. Dieses Jahr war es erstmals seit langem wieder okay mit dem Regen. Wenn die Temperaturen weiter steigen, werden wir in Zukunft neue Gemüsesorten wie Brokkoli anpflanzen."

Ferdinand Egede

Am nächsten Morgen: man erwartet uns im grönländischen Versuchszentrum für Landwirtschaft. Seit 1953 experimentiert man hier in Upernaviarsuk mit dem Anbau von Gemüse- und Obstsorten. Chefgärtner ist der Norweger Anders Iversen, der seit fünf Jahren hier arbeitet. Jetzt ist Anders ein Erfolg gelungen, der als Meldung um die Welt gehen wird, da sind wir uns ganz sicher: Anders Iversen hat erstmals auf Grönland erfolgreich Erdbeeren gezogen. Im kommenden Sommer rechnet er mit 1500 Kilo Ernte. Und Anders schont die Pflanzen nicht.

"Die Pflanzen werden im Winter dem hiesigen Klima voll ausgesetzt sein – sie überwintern ohne jeden Schutz. Ende April, Anfang Mai werde ich den Tunnel dann wieder mit Plastikfolie abdecken. Denn Licht haben wir genug hier und im Tunnel steigen dann natürlich die Temperaturen und so werden diese Erdbeeren richtig wachsen."

Anders Iversen

Erdbeeren auf Grönland? Auch sie können hier nur dank des Klimawandels in der Arktis wachsen.

Die arktische Natur wirkt nach außen so robust. Doch sie ist fragil, schon kleine Temperaturschwankungen können unumkehrbare Wirkungen auslösen. Es sieht so aus, als habe Grönland den bisherigen Temperaturanstieg einigermaßen verkraftet. Aber niemand weiß, wie die arktische Natur auf noch höhere Temperaturen reagieren wird.

(Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungsmanuskripts, das Sie hier in seiner vollständigen Fassung auch herunterladen können.)

Sendungsmanuskript Format: PDF Größe: 83,25 KB


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