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Paris statt Hartz IV Wir sind deutsche Gastarbeiter

Eine norddeutsche Kleinstadt zur Zeit der Finanzkrise: Familie Sommer wird arbeitslos. "Als Kinder einer Hartz IV-Familie haben unsere Töchter in der Schule keine Chance", sagte Barbara Sommer und ihr Mann legte nach: "Ohne Arbeit sind wir unseren Kindern kein Vorbild."

Von: Eva Müller und Julia Friedrichs

Stand: 06.09.2015 | Archiv

Familie Sommer beim Ausflug in Paris | Bild: BR

Eva Sommer verlässt das Haus im Morgengrauen. Sie will den Tag zum Lernen nutzen. Seit sieben Jahren macht sie das so. Seit ihre Familie nach Frankreich ausgewandert ist. Damals ist Eva zehn, ihre Schwester Lisa acht. Keiner aus der Familie spricht bislang ein Wort französisch.

Die Sommers sind deutsche Gastarbeiter. Nach drei Jahren Hartz IV in Deutschland. Die Eltern haben ihre Heimat verlassen, weil sie ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen wollten.

"Mama und Papa haben gesagt, das Einzige, was du tun kannst, ist in der Schule gut zu sein, damit du was wirst."

Eva Sommer

Erfolgsgeschichte in Frankreich

Und tatsächlich: Sieben Jahre später ist Eva Jurastudentin. An einer Uni in Paris.

Sieben Jahre haben wir Familie Sommer begleitet. Hat sich dieser Schritt für alle gelohnt? Wenn Eva Sommer morgens um acht an der Uni eintrifft, hat sie schon anderthalb Stunden Fahrt hinter sich. Hier trifft sie auch ihre Freunde, französische Jurastudenten – wie sie. Dass Eva eine besondere Geschichte hat, wissen nur wenige.

Markus Sommer bei der Arbeit

Und so fing alles an: Frühjahr 2007. Es ist das Jahr, in dem Evas Vater, Markus Sommer, allen Mut zusammen nimmt. Als die Arbeitsagentur ihm eine Stelle als Zaunbauer in Paris anbietet, muss alles ganz schnell gehen. Die Entscheidung für den Job, der Abschied von den Freunden, der Umzug in ein fremdes Land. Aber für Markus Sommer zählt nur eins: Nicht mehr arbeitslos zu sein.

"Man leidet ja nicht nur alleine darunter, man leidet als ganze Familie darunter. Man fühlt sich scheiße."

Markus Sommer

Die Sommers am Esstisch

Es ist kein traumhaftes Auswandererleben. Sie haben 1400 Euro brutto, weniger als vorher in Deutschland mit Hartz IV. Aber sie haben etwas zu tun – und die Hoffnung, dass es besser wird.

Das Geld reicht nicht

Schon vier Monate später gibt es für Familie Sommer schlechte Nachrichten. Markus Sommers Lohn reicht einfach nicht. Sie sind mit der Miete im Rückstand. Weil das Geld fehlt, muss Barbara Sommer mitverdienen. Ihren Französischkurs hat sie dafür abgebrochen.

Barbara Sommer im Hotel

Ein Euro 30 bekommt Barbara Sommer pro Zimmer. Wenn es gut läuft, hat sie am Monatsende 500 Euro. Manchmal fragen sie sich, ob sich das alles lohnt oder ob es nicht doch besser wäre, wieder zurück nach Deutschland zu gehen.

Wieder drei Monate später wird es dann ernst für Eva und Lisa. Jetzt sind sie dran. Es ist der erste Schultag nach den Ferien. Eva wechselt heute auf die weiterführende Schule: das College.

Die Kinder kommen auf die Schule

Eva im College

Viel ist in Frankreich schon schief gelaufen, das hier muss jetzt klappen. Dafür sind sie hier. Eva weiß das. Wie besessen hat sie französische Vokabeln gelernt. Aber genügt das, um in der Schule mitzukommen? Sie ist jetzt Schülerin der 5. Klasse: "Die Deutsche" und damit auch nur eine mehr mit einer Zuwanderungsgeschichte. Evas Klasse ist bunter als die, die sie in Deutschland besuchte. Viele hier wissen, wie es ist, wenn eine Familie zwei Heimatländer hat.

Und dann. Nur ein Jahr später, 2008. Barbara und Markus Sommer sind zum ersten Mal in Frankreich richtig erleichtert. Sie finden, bei den Kindern läuft’s. Es ist Frühling 2008. Ein Jahr sind die Sommers inzwischen in Frankreich. Zur Feier des Tages machen sie einen Ausflug in die Pariser Innenstadt. Noch ist längst nicht alles in Ordnung. Im nächsten Jahr muss es mit dem Geld unbedingt besser werden. Doch bei allen Problemen: Markus Sommer hat Arbeit und sie sind weit weg von Hartz IV.

Ein weiteres Jahr später, 2009, hat sich bei den Sommers beruflich alles verändert. Markus Sommer hat einen neuen Job als Schweißer bekommen. Hier hat er ein Dach über dem Kopf und leitet sogar ein kleines Team. Und auch Barbara Sommer hat eine andere Stelle gefunden, ist seit ein paar Wochen nicht mehr im Hotel. Sie ist jetzt Hausmeisterassistentin in einem Hochhauskomplex und bekommt endlich etwas mehr Geld.

Die Familie Sommer zerbricht

Zwei Jahre später. Sommer 2011. In der letzten Zeit wollten die Sommers lieber kein Kamerateam bei sich haben. Sie hätten neue Probleme und bräuchten Zeit, hatten sie gesagt. Anfang des Jahres hat Barbara Sommer eine Entscheidung getroffen, die das Leben ihrer Familie wieder einmal komplett verändern wird.

Markus Sommer ist im Moment viel draußen unterwegs, im Park mit seinem Freund Stephan. Zu Hause gibt es zu oft Streit. Im Moment versuchen sie, sich so gut es geht aus dem Weg zu gehen.

Sonntag Abend. Auch wenn die Sommers nun kein Paar mehr sind – einmal pro Woche versuchen sie, so etwas wie einen Familienabend hinzubekommen. Seit dreieinhalb Jahren leben sie jetzt alle in Frankreich. Fast hatten sie es geschafft – mit der Arbeit, mit dem Geld, der Sprache und den Freunden für die Kinder hatte es geklappt. Ein gutes Leben in Frankreich statt Hartz IV in Deutschland. Die Trennung stellt jetzt alles wieder in Frage.

Traumberuf Staatsanwältin

Vier Jahre später: Januar 2015 an der Université Cergy, nördlich von Paris. Eva Sommer studiert hier, sie hat in Frankreich tatsächlich ihr Abitur geschafft. Jetzt lernt sie deutsch-französisches Recht. 13 Stunden dauern ihre Unitage, denn sie hat ein ganz konkretes Ziel:

"Bis jetzt ist mein Traumberuf Staatsanwältin, ja. Ich ruh mich manchmal auch aus, aber ich lerne hauptsächlich."

Eva Sommer

Barbara Sommer

Statt zu putzen verwaltet Barbara Sommer in ihrem Büro inzwischen die Wohnungen von 72 Familien. Dafür bekommt sie 1300 Euro netto im Monat und eine Dienstwohnung für sich und die Mädchen.

"Jetzt bin ich autonome Hausmeisterin, keine Assistentin mehr. Ich mache die Sachen jetzt alleine. Ist das ein Aufstieg? Aber natürlich ist das ein Aufstieg."

Barbara Sommer

In Frankreich angekommen

Eins hat sich aber nicht verändert in ihrem Leben. Zu Hause deckt Barbara Sommer nur drei Teller. Markus Sommer kommt nicht mehr. Aber beide Mädchen wohnen noch bei ihr.

Lisa ist inzwischen sechzehn; in der Schule läuft es einigermaßen, sie hat viele Freunde. Und wenn sie französisch spricht, muss sich ihre Mutter schon sehr konzentrieren, um überhaupt noch mitzukommen. Mit Eva spricht Lisa kaum noch auf Deutsch.

Ihr Mann lebt zwar noch in der Nähe, arbeitet weiter bei der Schweißerei. Aber Eva ist die Einzige, zu der er noch ab und zu Kontakt hat.

Früher haben die Sommers gerade abends viel über Deutschland gesprochen. Das ist vorbei. Das Fremdsein, sich anders fühlen, ausgegrenzt zu werden aber auch. Sie sind nicht mehr "die Deutschen".

"Am Anfang war es natürlich ein bisschen schwer und komisch, zwei Deutsche in der Grundschule. Aber jetzt, nö, da spürt man das gar nicht mehr, Dass da Differenzen zwischen uns und anderen Schülern sind."

Eva Sommer

Lisa hat seit genau einem Jahr einen Freund. Aus ihrer Schulklasse: Oliver. Er kommt oft vorbei, holt sie jeden Morgen zur Schule ab. Bringt sie wieder nach Hause. So fließen die Tage dahin - zufrieden.

Stolz der Familie: Evas französisches Abitur

Barbara Sommer hat die Ziele, die sie vor allem für ihre Kinder hatte, erreicht. Nur einen Haken hat das Ganze: Sie selbst ist oft einsam.

Bei den verbliebenen Sommers heißt es jetzt: Nicht mehr vielleicht Frankreich, nicht mehr für ein Jahr, sondern für die Zukunft. Im besten Fall - gemeinsam.

(Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungsmanuskripts, das Sie hier auch zum Herunterladen finden.)

Das Sendungsmanuskript zum Herunterladen Format: PDF Größe: 45,83 KB


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nachdenklich, Sonntag, 06.September 2015, 23:21 Uhr

1. Dieser Beitrag macht einen wütenden und nachdenklich

Leider hat man nicht erfahren, wie es Markus geht.
Leider ist die Ehe gescheitert.
Aber Gratulation trotzdem an die Familie.
Aus den beiden Töchtern wird nochmals was.
Ob sie in D die gleichen Möglichkeiten gehabt hätten. Wohl kaum.
Gut das die jüngere D verdrängt.
Es ist traurig, dass wir es uns leisten können gute Leute gehen zu lassen.
In Schweden freuen sie sich über Leute aus Meck-Vorpomm.

Aber laut unserer Regierung (egal ob D oder BY) ist alles spitze bei uns.
Logisch die Langzeitarbeitslosen werden als Faule gebrandmarkt und das der Statistik elemniert.
Aktuell wird auf der IFA die Gigaset-Smartphones präsentiert. Die deut. Medien feiern schon. Toll Smartphone aus D.
Dumm nur das Gigaset inzwischen einer Hongkonger Holding gehört und die hat eine Tochter in China, die die Telefone für Gigaset fertigt. NIx D.
Ähnlich meinem Laden - 80% aus China & Co. Bei uns kommt nur noch das Etikett drauf. Aber das schaffen wir auch noch.