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Sehnsuchtsorte Europas Das Ötztal (1958)

"Wäre jeder Stein im Acker ein Groschen, jedes Schaffel Schneewasser drei Kreutzer, ließen sich die Brennnesseln auf den Wiesen nach Amerika verkaufen, - steinreich wären dann die Leut` im Ötztal, hinten im armen Land Tirol.“

Von: Otto Guggenbichler (1958); Bearbeitung: Gerhard Losher

Stand: 21.08.2016 | Archiv

Ötztal | Bild: BR

65 Kilometer schlängelt sich das längste Seitental der Ostalpen von seiner Einmündung ins Inntal etwa 50 Kilometer westlich von Innsbruck bis an die eisgepanzerte Grenze Südtirols.

Aus gut einem Dutzend solcher Weiler wuchs die Hauptsiedlung des Ötztals zusammen: Sölden, der Fläche nach die größte Gemeinde Tirols. 500 Jahre blieb die Einwohnerzahl konstant. Seit dem Jahrhundert des Tourismus verdoppelte sie sich. Trotzdem wurden nur Sölden und Gurgl ausgesprochene Fremdenorte.

Bittgang bei Schnals

Ein halbes Jahrtausend bäuerlicher Tradition steckt im Ötztal. 500 Jahre von Gott und der Welt abgeschieden, 500 monotone Jahre mit Federvieh und Rindvieh. Dann kamen auf einmal die Fremden.

Über Nacht wurde aus dem tristen Kuhort ein attraktiver Kurort. Der Tourismus revolutionierte die Alpenländer.

Die alten Häuser von Sölden haben sich seit der K. und K.-Zeit kaum geändert.

Einsteigen bitte, zum Sessellift, zum "Touropa-Bagger", wie ihn die jungen Burschen zu nennen pflegen. Dieser Sessellift, der über den Bannwald nach Hochsölden führt, erschloss dem Ötztal ein neues Touren- und Wintersportgebiet.

Mitten auf den Hängen der seit Jahrhunderten beweideten Heimbachalm, dicht neben uralten Hochalmen, zu denen die Bauernfamilien im Sommer mit Kind und Kegel heraufziehen, entstand das Hoteldorf Hochsölden.

Der Lift bringt den Sommerfrischler bis in 2400 Meter Höhe.

Das Ötztal ist eine hochalpine Landschaft. Im Umkreis von 20 Kilometern stehen 500 3000er. Der Bergsteiger kann hier monatelang steile und sanfte Gipfel abgrasen.

Über 40 Hütten, davon 15 Alpenvereinshäuser, erschließen dem Naturfreund die Bergwelt zwischen Kaunergrat und Stubai, zwischen Ötz und Meran.

Lawinen und Hochwasserkatastrophen richten jährlich großen Schaden an. 1951 wurden allein in Tirol 150 Kühe durch Lawinen getötet. Jeden Winter bangen die Bauen von Neuem um Hab und Gut.

Die Bergbauern des Ötztals vermögen sich kaum vorzustellen, dass man in den Städten die 40-Stundenwoche realisieren wird. Auf den Berghöfen im Ötztal arbeitet man nach wie vor 60 bis 80 Stunden. Von der Bezahlung ganz zu schweigen.

Die meisten Wälder sind sogenannte Bannhölzer, Schutzwälder gegen Muren und Lawinen. Wer in früheren Zeiten im Bannwald einen Baum umlegte, wurde des Tales verwiesen.

Im Frühjahr tritt die Venter Ache über ihre Ufer und schüttet Steine und Sand auf das Land. Jede Wiese muss jährlich von Steinen frei geklaubt werden. Generationen schufteten viel, ehe die Flecken nutzbar wurden. Die paar Halme, die auf dem steinigen Acker mühsam hochkommen, erwischt entweder der Hagel, der Augustschnee oder das Hirschwild. Hier wird das Heu sogar mit dem Reisigbesen zusammengekehrt, damit ja kein Gräslein verloren geht.

Die Heuerträge bestimmen die Größe des Viehbestandes. Eine Kuh frisst am Tag zirka 15 bis 18 Kilogramm Heu. Wegen des langen Winters brauchen die Ötztaler riesige Futtervorräte.

Auf diesem Weiler, dessen Bewohner sechs Stunden zum Brotholen gehen müssten, wird alle zwei Monate gebacken. Die kleinen, handgroßen Leibe werden aufbewahrt und von der Mutter behütet und verteilt. Das steinharte Brot wird in die Suppe oder den Kaffee eingebrockt, nachdem man es mit der Brotkraml zerkleinert hat. Schlechte Zähne darf man da freilich nicht haben.

Außer Wasser, Gras und Schnee gibt es im Venter Tal höchstens noch Waldbeeren und Pilze. Die Preißelbeeren sind in 1700 Metern Höhe, wo kein Obst mehr wächst, die einzige Frucht, die den monotonen Speisezettel zu bereichern vermag. 17 Kübel Beeren hatte die Bäuerin für den kommenden Winter, für Weihnachten und für den Fall, dass jemand krank wird, eingemacht.

Die Straße im Venter Tal ist so eng und gefährlich, dass sie nur nach dem Stundenplan der Gendarmerie befahren werden darf: Die geraden Stunden sind für die Bergfahrt, die ungeraden für die Talfahrt bestimmt.

Am Ende des Venter Tales, am Fuße der Wildspitze, liegt das Bergsteigerdorf Vent, 1896 Meter hoch, das zweithöchste Kirchdorf Europas. Die seit dem 14. Jahrhundert besiedelte Berggemeinde wurde wie die meisten Orte des Innerötztals von Südtirol her besiedelt: Die Herren von Meran und Kastelbell errichteten hier ihre Schwaig- oder Viehhöfe.

Hoch über Vent, in 2014 Metern Höhe, liegen die Rofenhöfe, eine der höchsten Dauersiedlungen Europas. Ihr romanischer Name kommt von "rovina", der Bergsturz.

"Die Sonne schätzt, wer hinterm Berg wohnt", heißt es in einem alten Bauernspruch. Von November bis Februar scheint auf den Rofenhöfen kein Strahl Sonne, weil die umliegenden 3000er zu große Schatten werfen. Ab dem 8. Februar kommt die Sonne wieder minutenweise zurück.

Jeder Balken für den Hausbau wurde kilometerweit bergauf geschleppt, denn hier in 2000 Metern Höhe haben sogar die Krüppelfichten mit Schnee und Kälte zu ringen. Trotz der erbarmungslosen Kälte im Hochwinter müssen die Rofener Holz sparen. Acht Monate liegt auf den Wiesen und Weiden der Schnee. Im Winter sind die Rofener wochenlang von aller Umwelt abgeschlossen. Die Kinder werden wegen Lawinengefahr vom Schulbesuch dispensiert.

Die Klötze, wie man die Rofener nennt, weil sie mit dem Schreibnamen "Klotz" heißen, machen keinen Hehl daraus, dass ihnen die neu errichtete Jausenstation mit einem spärlichen Kaffee- und Bierausschank mehr einbringt als die ganze Landwirtschaft.

Den Mais, den der Klotz in den Mahlkasten schüttet, hat man noch bis nach dem Weltkrieg mit der Kraxe von Südtirol geholt. Söhne wie Vater gingen mit 75 Pfund auf dem Buckel über das Joch. Den selben Weg, den heute die Schafe noch zurücklegen.

5000 Tiere werden vor der Sömmerung im Schnalstal für die bekannte Schaftrift in das benachbarte Ötztal zusammengetrieben. Da das Ötztal von Südtirol her besiedelt und kolonisiert wurde, besitzen die Schnalstaler im Innerötztal alte Weiderechte: Das Weiderecht für das Nieder- und Längental bis Vent ist seit dem Hochmittelalter verbrieft.

Alljährlich werden deshalb in der Gemeinde Unserfrau, nördlich von Meran, die Herden für den großen Schaftrieb eingepfercht. Der Veterinär überzeugt sich mit seinem Kollegen, dass keine Seuchen eingeschleppt werden, während sich die Hirten beim Wirt den Terlaner schmecken lassen.

Am See oberhalb Unserfrau erreichen die Herden ihren ersten Großpferch. Am nächsten Morgen fährt von hier ein Teil der Trift zum 2600 Meter hoch gelegenen Niederjoch. Jawohl, man fährt oder fahrt. Hier hat sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "fahren" im Sinne von "sich mühsam fortbewegen" in der Hirtensprache erhalten.

Die Trift führt unter den höchsten Dauersiedlungen Europas vorbei, unter den Finailhöfen, den Höfen am End', die in zirka 2000 Metern Höhe wie ein Balkon an der Südseite der Alpen hängen. Man erzählt sich, an manchen Orten müsse man die Kinder mit Stricken an Stangen binden, weil die Hänge so steil sind.

Wirtshaus und Weiler Kurzras am Talschluss liegen 2000 Meter hoch. Hier übernachten die Hirten, bevor sie über Joch und Gletscher gehen. Italienische Zöllner und Carabinieri fertigen Hirt' und Herde ab. Um vier Uhr früh öffnet sich der Pferch für den ersten Trieb. Selbst die Hirten sind heute aufgeregt, denn vom Entschluss, ob man gehen oder warten soll, hängt eventuell das Wohl von 2000 Schafen ab, 2000 Schafe und Ziegen im Wert von über einer Viertelmillion Mark.

Es ist noch gar nicht lang her, da kamen über 100 Tiere um. Ein anderes Mal sind alle Lämmer und sieben Hirten im Schneesturm erfroren. Die Tiere haben einen ungewöhnlichen Instinkt. Die Hirten und Bauern, die sich bis heute nicht von diesem Schlag erholt haben, erzählen, dass damals die Geißen trotz schönsten Wetters nicht aus dem Pferch heraus wollten.

Zwei Hirten und der Hüterbub treiben die Herde an. Die Route ist genau festgelegt. Die Hunde halten den Trieb zusammen, während die vorwitzigen Ziegenböcke mit ihrem sicheren Berginstinkt als vierhaxige Bergführer amtieren.

Das Hochjoch ist nicht nur Landesgrenze zwischen Österreich und Italien, es trennt auch den südlichen vom nördlichen Alpenkamm, daher ist es auch Wetterscheide. Oft ist es drüben schön und hier schlecht. Oft ist es auch umgekehrt. Und darin liegt das große Risiko.

Die letzten Serpentinen kosten besonders viel Kraft. Vor allem die Lämmer kommen nicht mehr recht mit. Alles hängt jetzt von der Energie der Leithammel ab. Tiroler Grenzer warten am Joch. Sie sind vom Ötztal aufgestiegen und kontrollieren die Herden und Hirten.

Der erste Trieb hat das Joch erreicht, auf dem das Bellavista-Haus, die schöne Aussicht, steht. Kein Wunder, wenn nun eine Brotzeit fällig ist, mit wenig Brot aber viel Wein. Auch die Schafe und Ziegen machen Rast. Oft kommen durch die Anstrengung Lämmer früher als erwartet zur Welt. Die Hirten tragen sie dann im Rucksack mit.

Ehe man sich umschaut, steckt die Herde im schlechten Wetter. So schnell kann es im Hochgebirge gehen. Innerhalb einer halben Stunde sank die Temperatur um 20 Grad. Auch die Sicht ist schlecht geworden. Aber die Hirten kennen ja hier jeden Stein.

Es geht wieder talwärts bergab. Die Hirtenrufe werden leiser, die Tiere gehen allein ihren Weg. Mit einem Schlag fängt die Herde zu laufen an - Endspurt im Hammelmarathon. Die Viecher riechen das würzige Gras. Auch die Hirten beschleunigen ihren Schritt. Viele wollen noch am selben Tag übers Joch zurück. Während sich gewöhnlich Schafe und Geißen nach der Ankunft ins Gras legen, um auszuruhen, bemerken die Hirten diesmal, dass sich die Tiere anders verhalten: Sie grasen zuerst. Tatsächlich hat es kurz darauf auf der Alpennordseite bis 1700 Meter herunter geschneit. Schafe haben einen ungewöhnlichen Instinkt.

Von Juni bis Mitte September bleiben die Schafe und Ziegen auf den Hochmatten des Ötztals sich selbst überlassen. Die Tiere grasen in der Felsregion bei jedem Wetter. Oft werden sie eingeschneit. Dann kuscheln sie sich eng zusammen. Zwei bis drei Tage halten sie ohne jedes Futter aus.

Der Heimweg ist für sie keine Strapaze mehr. Während der vierteljährlichen Weidezeit hat sich die Herde die Gewohnheiten von Wildtieren angeeignet. Sie lassen sich nicht mehr anfassen und wehren die Hunde ab.

Der Zug der 4000 Schafe von Süd- nach Nordtirol ist die letzte große Trift in Mitteleuropa. Sie ist ein kulturgeschichtliches Dokument.

(Dieser Text ist eine stark verkürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungstexts.)

Wiederholung vom 24.8.2014

Sendungstext in der Fassung der Untertitel Format: PDF Größe: 65,94 KB


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