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Europa-Reportage Raus aus der EU? - Briten vor der Wahl

Laut einer aktuellen Umfrage der Zeitung "The Mail On Sunday" wollen 45 Prozent der Briten für den Verbleib des Königreichs in der EU stimmen und 42 Prozent für den Ausstieg.

Von: Birgit Muth

Stand: 19.06.2016 | Archiv

"Vote to leave"-Plakat | Bild: BR

Trauer um Jo Cox

Großbritannien trauert um die Labour-Abgeordnete Jo Cox. Das Land ist geschockt. Nach der Attacke eines 52-jährigen Mannes in der nordenglischen Stadt Birstall am Donnerstagmittag war die 41-Jährige in einem Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen. Kerzen und Blumen vor dem Westminster-Palast in London, auf dem Hausboot der Ermordeten an der Themse und im nordenglischen Birstall als Ehrenbezeugungen. Jo Cox hatte sich für einen Verbleib in der EU stark gemacht.Premierminister David Cameron und Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn waren an den Tatort gereist; sie sehen in der Tat einen Anschlag auf die Demokratie.

Innehalten und Besinnung haben eine aggressive öffentliche Debatte um den Ausstieg Großbritanniens abgelöst. Und während sich nach ersten Vernehmungen ein politischer Hintergrund des Tatverdächtigen zu verdichten scheint, wird in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, ob die Propagandaschlachten der beiden Lager einen Einfluss auf die Bluttat hatten.

Auch wenn die Kampagnen, die in den letzten Tagen aus Respekt gegenüber der ermordeten Labour-Abgeordneten ausgesetzt wurden, jetzt wieder anlaufen, soll bis zum Referendum am kommenden Donnerstag ein anderer Ton angeschlagen werden. Wir konnten uns bei unserer Tour durch Großbritannien ein Bild über die Kampagnen vor dem Anschlag verschaffen.

Münchner in London

Tobias Schneidler

Tobias Schneidler, gebürtiger Münchner und über seit zwei Jahrzehnten in London zuhause, ist seit Monaten freiwilliger Unterstützer der Kampagne "Vote Remain" für einen Verbleib in der EU und wirbt hier in seinem Stadtviertel Primrose.

"Ich habe selber eine Firma in London und ich weiß, wie wichtig es ist, dass man mit Europa in Verbindung steht und nicht nur Angestellte hier herüber bekommt, sondern auch Sachen verkauft. Wir sind einfach Nachbarn. Wir sind 500 Millionen Leute, die irgendwie miteinander leben müssen, und da ist Europa unglaublich wichtig."

Tobias Schneidler

Im Osten Londons, in Bricklane, weniger chic, dafür hip und in der jungen Szene angesagt, wird multikulti gelebt. Die Mehrheit der jungen Stadtbevölkerung schlägt keine europakritischen Töne an. Doch entscheidend wird sein, ob sie sich von den Kampagnen für oder gegen Europa angesprochen fühlen und von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen?

Der Rest der Insel

London, die weltoffene multikulturelle Metropole, tickt nicht so wie der Rest der Insel. Wir fahren raus aus London nach Bulwell unweit von Nottingham, wo sich so mancher einen neuen Robin Hood herbeiwünscht. Niedrige Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit machen sich im Stadtbild bemerkbar.

Die Kampagne "Vote Leave", also für einen Befreiungsschlag Großbritanniens, findet hier offene Ohren. Die rechtspopulistische UKIP-Partei zählt zu den lautesten Vertretern der "Vote Leave"-Kampagne für den Ausstieg, der hier nur mehr Brexit heißt – ein Kunstwort zusammengesetzt aus Britain und Exit.

Nigel Farage

Nigel Farage weiß sich in Szene zu setzen. Und für seine Anhänger hat er ein wenig von dem legendären Robin Hood hier aus der Gegend. Er kämpft als Europaskeptiker gegen das Establishment und setzt sich für die Sorgen und Nöte der einfachen Bürger ein. Und wie immer schießt er gegen Premierminister David Cameron, den Anführer und das prominenteste Gesicht der EU-Befürworter.

"Da gibt es eine Chance, oder etwa nicht? Natürlich besteht die Möglichkeit des Brexit. Wir haben selbst die britische Regierung, das Schatzamt, den Premierminister. Wir haben hohe Ausfälle durch den IWF, den EFSI. Was die Leute aber dazu meinen ist: Hier geht es um die großen internationalen Konzerne, die großen Banken, das ist alles große Politik. Aber es geht auch um das Versagen, das Scheitern der Euro-Zone, Frau Merkels dramatisches Scheitern in der Flüchtlingskrise. Warum soll dieses Land verbündet und gebunden mit dem Scheitern sein? Ist es nicht besser uns zu trennen, unsere Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Und nochmals: Ich verspreche es Ihnen: Wir werden auch weiterhin eure deutschen Autos kaufen."

Nigel Farage

Eine bayerische Erfolgsgeschichte

Wir besuchen Unternehmer und EU-Befürworter Tobias Schneidler: Von ihm wollen wir erfahren, wie wichtig für ihn die Europäische Union ist. Der gebürtige Münchner lebt seit vielen Jahren in London und besitzt eine eigenen Firma im Industriepark Lockwood, in der auf individuelle Kundenwünsche ausgerichtete Tablet-Halterungen entwickelt und produziert werden.

"Ja, wir haben vor fünf Jahren hier angefangen. Wir waren eine Designagentur davor und haben mit großen Einzelhändlern, aber auch mit großen Marken wie Adidas oder auch Barclays Bank an neuen Shop-Konzepten gearbeitet. Und daraus ist ein Produkt hervorgegangen. Um Tablets, also iPads, als kommerzielle Tools in Firmen einzubauen, also in Verkaufsräumen, in Hotels, Restaurants. Und die werden also hier oben entwickelt und so weiter und so fort und unten wird alles hergestellt. Wir haben die Fabrik sozusagen im Haus."

Tobias Schneidler

Cameron im Visier

Das EU-Referendum der Briten könnte auch zu einer Abstimmung über das Vertrauen in Premierminister Cameron werden. Dieser wollte eigentlich seine Position gegenüber den EU-Skeptikern – auch aus den eigenen Reihen – stärken. Das Gegenteil ist nun der Fall: Der Bruch innerhalb seiner konservativen Regierungspartei ist tiefer denn je. Die Zeitungen sind voll mit Spekulationen und Prognosen über David Cameron, dem Gesicht der EU-Befürworter, und seinen Gegenspielern für einen Brexit, dem ambitionierten Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson sowie UKIP-Boss Farage.

Die EU-Befürworter sehen in der Buntheit und der kulturellen Vielfalt eine große Stärke Großbritanniens.

Boris Johnson

Boris Johnson

Gut platziert an der Pferderennbahn Yorks verheißt der Tourbus das Auftauchen des populärsten Gesichts der Brexit-Kampagne, Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson. Perfektes Marketing der "Leave"-Kampagne. Die 500 verfügbaren Besucherplätze waren im Internet sofort vergeben, die Nachfrage zehnmal so groß. Die signalroten T-Shirts mit dem Aufdruck „Vote Leave“ sind beliebt. Einfach die Botschaft: Großbritannien soll die Kontrolle und Souveränität zurückgewinnen: Let's take back control – ein Motto, das emotionalisiert.

Sein sarkastischer Debattenton kommt beim Publikum an. Der begabte Rhetoriker gibt manchmal gern den Clown. In letzter Zeit, als er die EU mit Hitler oder schlecht sitzender Unterwäsche verglich, hat er sich allerdings verrannt. Jedenfalls: mit den wöchentlichen 350 Millionenzahlungen an die EU – auch wenn Gegner sagen, es sei weit weniger, trifft Boris Johnson immer ins Schwarze.

Ein bunt gemischtes Grüppchen aus Damen und Herren, auch dabei Alan Graves, der Landesvorsitzenden der UKIP-Partei in der Region East Midlands; er geht auf Werbetour für „Vote leave“.

Noch ist das Ergebnis offen. Es klingt zynisch, aber der Tod der Labour-Abgeordneten Jo Cox könnte einen Stimmungswandel zugunsten der EU-Befürworter auslösen, vermuten Meinungsforscher.

Zurück in London, wo das Wetter in wenigen Minuten wechselt und so wenig vorhersehbar ist wie das Ergebnis des Referendums. Die U-Bahn–Station Russell Square in den frühen Abendstunden. Antoinette dirigiert die anderen freiwilligen Helfer. Jedes Mal wirbt sie mit einem anderen Team von Freiwilligen und der Botschaft "Vote Remain" – Stimmen Sie für einen Verbleib in der EU.

Wenngleich für die britischen Buchmacher seit Wochen kein Zweifel an einem Sieg der EU-Befürworter besteht, sehen sie nun nach dem Mord an der Labour-Abgeordneten Cox einen weiteren Zuspruch für einen Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft: Die getötete Politikerin Jo Cox setzte sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit und Menschenrechte ein, unter anderem für syrische Flüchtlinge in Großbritannien und warb offen für den europäischen Gedanken in einer Zeit, in der Populismus salonfähig geworden ist und die politische Stimmung in Europa vielerorts Richtung rechts tendiert.

Nach dem Mord an Jo Cox scheint die gespaltete Nation wieder enger zusammengerückt zu sein. Am 23. Juni haben die Briten nun die Wahl . Werden sie weiterhin auch Europa oder nur mehr der Monarchie die Treue halten?

(Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sendungsmanuskripts.)

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