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Türkei Der Anschlag und die Kurden

Artillerieeinschläge in der Altstadt von Diyarbakir. Seit Monaten beschießen türkische Sicherheitskräfte mutmaßliche Verstecke kurdischer Kämpfer der verbotenen Arbeiterpartei PKK. Sie gelten als Terroristen.

Von: Bernd Niebrügge

Stand: 21.02.2016 | Archiv

Selbstmordattentat in Ankara | Bild: BR

Beschuss in Diyarbakir

Immer wieder gibt es Razzien, die Altstadt ist hermetisch abgeriegelt. Eine eskalierende Lage, wie sie an vielen Orten im kurdischen Südosten der Türkei existiert. Hunderte kurdische Kämpfer und Zivilisten haben bereits den Tod gefunden. Auch die Sicherheitskräfte melden hohe Verluste.

In der kurdischen Kleinstadt Suruc haben wir die Möglichkeit Mitglieder der prokurdischen Parlamentspartei HDP zu sprechen. Sie befürchten eine Eskalation der Kämpfe zwischen Türken und Kurden. Und sie hegen ein tiefes Misstrauen gegen die Regierung Erdogan.

Suphi Kocyigit

"Wie lange soll das so noch weiter gehen?", meint der Ortsvorsitzende Suphi Kocyigit. "Wie viel Blut muss denn noch fließen? Auch die türkische Bevölkerung im Land ist damit doch nicht einverstanden. Warum sollen Brüder gegeneinander kämpfen."

Der vergangene Mittwoch in Ankara: Die Autobombe eines Selbstmordattentäters reißt 28 Menschen in den Tod; Soldaten wie zivile Mitarbeiter der türkischen Streitkräfte. Schon nach wenigen Stunden nennt die Regierung die PKK als mitverantwortlich für den Anschlag, doch der Haupttäter sei anderer Herkunft:

"Es hat sich herausgestellt, dass diese Tat von einem kurdischen YPG Kämpfer aus Syrien in Zusammenarbeit mit der PKK verübt worden ist."

Ahmet Davutoglu, Ministerpräsident Türkei

Die Kurden in Syrien – auch sie sind zu einem Sicherheitsproblem für die Türkei geworden. Der militärische Arm der syrischen Kurden YPG ist im Kampf gegen die Terrormiliz des Islamischen Staates erfolgreich auf dem Vormarsch, hier dokumentiert in Propagandabildern der YPG. Schon bald könnten sie das gesamte nördliche Grenzgebiet zur Türkei kontrollieren.

Erol Katircioglu

Über zwei Drittel des Nordens sind bereits in der Hand der YPG. Die Türkei betrachtet sie aber als Ableger der verbotenen PKK und hat vor zwei Wochen begonnen, kurdische Stellungen in Syrien zu beschießen. Selbst ein Einmarsch türkischer Truppen wird diskutiert.

"Angesichts des Anschlags von Ankara sowie der Kämpfe mit der PKK und angesichts der Möglichkeit, dass die YPG ein einheitliches Gebiet in Nordsyrien beherrscht, könnte die Türkei auch noch weitergehende militärische Schritte ergreifen."

Erol Katircioglu, Politikwissenschaftler

Zurück in der Kleinstadt Suruc: hier sehen die Kurden die Zuspitzung der Lage mit größter Sorge, sie beziehen aber klar Stellung für ihre Brüder in Syrien.

"YPG ist in Syrien doch eine stabilisierende Kraft. Sie hat die barbarischen Terroristen des Islamischen Staates ja schon aus der Stadt Kobane vertrieben. Die Türkei sollte sie eher unterstützen."

Suphi Kocyigit, HDP-Bezirksvorsitzender

Nur wenige Kilometer von Suruc entfernt auf syrischer Seite liegt das zerstörte Kobane. Hier weht seit Februar 2015 die Flagge der YPG. Sie vertrieben in monatelangen Kämpfen und in Sichtweite zur türkischen Grenze den IS, unterstützt von den USA mit Waffen und Luftschlägen. Seitdem sind die syrischen Kurden Verbündete der USA, trotz aller Proteste der Türkei.

"Die Möglichkeit, dass eine autonome kurdische Region in Syrien direkt an der türkischen Grenze entsteht und möglicherweise sogar ein unabhängiger kurdischer Staat, hat die Politik der Türkei entscheidend verändert. Der vorherige Friedensprozess mit den Kurden in der Türkei wurde nur deshalb beendet."

Erol Katircioglu, Politikwissenschaftler

Ministerpräsident Davutoglu gedachte am Freitag der Opfer des Anschlags von Ankara – ein Anschlag, der die Situation im Land und auch den Syrienkonflikt zuspitzt. Denn ohne eine Lösung der Kurdenfrage im eigenen Land wird die Türkei auch im Syrienkonflikt ein unberechenbarer Partner bleiben.


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