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Frankreich Wofür die Bahnbeschäftigten streiken

Am berühmten Pariser Bahnhof Gare de Lyon geht gar nichts mehr. Normalerweise herrscht hier um diese Zeit Großbetrieb – jetzt nur Geisterstille. Seit dem 3. April schon streiken die Eisenbahner.

Von: Matthias Werth und Nicole Aistleitner

Stand: 15.04.2018 | Archiv

Der leere Pariser Bahnhof Gare de Lyon | Bild: BR

Bérenger Cernon

Drei Tage Arbeiten, zwei Tage Streik. An einem Streiktag wie heute geht gerade mal einer von sechs Fernzügen raus. Das liegt auch an ihm: Bérenger Cernon, 29 Jahre alt, Lok- und Gewerkschaftsführer der linken CGT. Drei Viertel der Lokführer streiken wie er. Sie wollen sich die einst hart erkämpften sozialen Errungenschaften nicht nehmen lassen.

"Man muss aufhören, auf seinen Nachbarn zu schielen und zu sagen: er soll das nicht mehr haben. Im Gegenteil, man sollte es sich ansehen und sagen: ich hätte das auch gerne. Das sollte man verteidigen und einfordern, anstatt zu sagen: nehmt den Eisenbahnern ihren Status weg, meine ich: kämpft darum, das gleiche zu haben!"

Bérenger Cernon

Der Bahnhof ruht, Bérenger Cernon aber nicht. Die Kollegen müssen mobilisiert und motiviert und Zusammenkünfte vorbereitet werden. Er schläft nur fünf Stunden pro Nacht.

"Auf diesen Stühlen schlafe ich. Ich schiebe zwei Stühle zusammen, das reicht als Bett, und hier eine Decke und Schlafsack, denn die Nächte sind kurz."

Bérenger Cernon

Sie wollen durchhalten – komme, was da wolle. Es geht für sie um viel: Bei der staatlichen Eisenbahn ist man unkündbar und die Lokführer dürfen schon mit 52 gut versorgt in den Ruhestand gehen. Die anderen Bahnbediensteten mit 57. Außerdem gibt’s Freifahrtscheine für die ganze Familie. Für Lokführer Thierry Bochler gibt es gute Gründe für diese Privilegien:

"Ich arbeite dieses Wochenende und das darauffolgende. Ich arbeite auch am übernächsten Wochenende, dann ein Wochenende Ruhe und das Wochenende darauf wieder Arbeit."

Thierry Bochler

Thierry Bochler

Seit 30 Jahren ist er Lokführer und hat schon alle Züge gesteuert. Heute ist es der Schnellzug TGV nach Nantes. Thierry Bochler liebt seinen Job, aber er sei viel zu selten zu Hause, oft über Nächte weg. Die Arbeitsbedingungen der Eisenbahner seien heftiger als die der vielen anderen:

"Mein Privatleben leidet unter der Arbeit, ich kann keinen Gemeinschaftssport machen. Ich bin Musiker, kann aber in keiner Gruppe mitspielen, denn ich könne ja zu den Proben nicht immer anwesend sein. Normalerweise ruhen sich die Leute am Wochenende aus; das kann ich nicht tun. Jetzt sagt man mir, die Vorteile, die man mir versprochen hat, wie ein bisschen früher in Rente zu gehen, seien zu gut für uns, denn wir steuern ja keine Dampfloks mehr."

Thierry Bochler

Bérenger Cernon ist da schon zum nächsten Treffen unterwegs. Er ist froh, dass so viele Eisenbahner mitmachen. Er weiß: Die Konfrontation mit der Regierung wird diesmal hart. Keiner soll da zurückweichen. Schon frühere Präsidenten und Regierungen wollten die Privilegien bei der Eisenbahn abschaffen. Doch alle sind bisher am Widerstand der Beschäftigten gescheitert:

"Das macht schon Freude, all die Kumpels aus den verschiedensten Abteilungen. Da versteht man, wer die große Eisenbahnerfamilie eigentlich ist. In solchen Situationen, da explodiert die Energie und man spürt den Zusammenhalt."

Bérenger Cernon

Und vereint müssen sie der Regierung auch entgegentreten. Diese will die Privilegien bei Neueinstellungen abschaffen. Zudem hat die EU Vorgaben für eine schrittweise Öffnung des Schienenverkehrs auch für private Anbieter beschlossen. Der mit fast 50 Milliarden Euro verschuldete französische Bahnkonzern SNCF soll in ein Aktienunternehmen umgewandelt werden – für die Gewerkschaften eine Vorstufe zur Privatisierung.
Für die Eisenbahner wäre diese Liberalisierung eine Katastrophe. Sie befürchten Einkommensverluste und das schleichende Ende ihrer sozialen Errungenschaften.

"Der Kampf wird hart werden, er wird denkwürdig, denn unser heutiger Kampf ist ein historischer."

Bérenger Cernon vor den Streikenden

Die Eisenbahner sind wild entschlossen durchzuhalten, die Regierung aber auch. Das Tauziehen um die öffentliche Meinung neigt sich laut Umfragen zu Gunsten der Reformen der Regierung. Dennoch gibt es in der Bevölkerung weiterhin auch Verständnis für den Kampf der Eisenbahner.

Mit Schwung und Zuversicht machen sich Bérenger und seine Kollegen auf dem Weg zu einer Protestaktion vor dem Parlament; es wird nicht die letzte gewesen sein.


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