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Belgien Sterbehilfe kann auch Leben retten

Indoor-Fallschirmspringen im Windkanal mit 200 Stundenkilometern – sieht einfach aus, erfordert aber Körperbeherrschung und Kraft. Um beides muss Marieke Vervoort zunehmend kämpfen. Dennoch: Dass sie hier mitmachen darf, hilft ihr mehr als alle Schmerzmittel.

Von: Cornelia Kolden

Stand: 28.05.2017 | Archiv

Marieke Vervoort im Windkanal | Bild: BR

"Wenn du immer an den Rollstuhl gefesselt bist oder an dein Bett und du kannst nichts alleine machen, und dann fliegst du plötzlich wie ein Vogel und siehst deinen Rollstuhl da an der Tür stehen… ein wunderbares Gefühl!"

Marieke Vervoort, Rollstuhlleichtathletin

Marieke Vervoort

Zart und zerbrechlich wirkt sie heute, aber die Menschen erkennen sie immer noch sofort, denn Marieke Vervoort ist eine der erfolgreichsten Sportlerinnen Belgiens. Sie und ihr Hund Zenn sind Kult: Im Rollstuhlsprint hält sie lange den Weltrekord.
Auftritt in Rio bei den Paralympics: Sie tritt an, nach drei Tagen im Krankenhaus mit höllischen Schmerzen, und holt dann immer noch Silber – ein weiterer Triumph. Aber es wird ihr letzter, denn in Rio verkündet sie ihr Karriereende mit 37 Jahren. Und sie erklärt, dass sie in Belgien Sterbehilfe beantragt hat, schon 2008.

"Ich bin immer mehr an meine Grenzen gegangen, eben weil ich diese Erlaubnis hatte. Weil ich wusste, wenn es unerträglich wird, habe ich mein Leben in meiner Hand."

Marieke Vervoort

Vervoort will sich umbringen, rauscht es durch die Medien. Ihre Mailbox läuft über, auch mit Kritik. Aber das irritiert sie nicht.

Inzwischen ist sie sichtlich gezeichnet von ihrer Krankheit: eine fortschreitende Lähmung mit heftigen Schmerzanfällen – unheilbar, weshalb ihr in Belgien legale Sterbehilfe gewährt wird: ein Recht, das sie verteidigt.

"Für sehr viele Menschen ist Sterbehilfe Mord. Aber sieh mich an: Ich bin das beste Beispiel dafür, dass es kein Mord ist. Ohne diese Papiere hätte ich schon vor langer Zeit Selbstmord begangen."

Marieke Vervoort

Mit 14 erkrankt Marieke, seit 2000 sitzt sie im Rollstuhl. Immer wieder hat sie sich zu sportlichen Spitzenleistungen gekämpft. Es ist diese mentale Kraft, die die Menschen an ihr bewundern. Sie trainiert ausdauernd und zäh, obwohl ihr Körper mehr und mehr versagt. Neben den Schmerzattacken schwindet ihre Sehkraft, und sie wird immer häufiger und länger bewusstlos. Auch schwere Unfälle mehren sich, zuletzt vor vier Jahren:

"Der Arzt hat mir gesagt, dass ich nie wieder an die Spitze komme. Er meinte, es kann sogar sein, dass du deine Schulter überhaupt nicht mehr gebrauchen kannst. Meine Antwort: 'Kannst froh sein, dass ich grad meinen Finger nicht hochkriege!‘"

Marieke Vervoort

Und holt weiterhin Goldmedaillen. Und Marieke macht Dinge, die viele Menschen als halsbrecherisch bezeichnen: adrenalinsüchtig, furchtlos, verrückt. Lebe im Moment, ist ihre Devise. Und daher arbeitet sie eine Liste letzter Wünsche ab.

"Es war fantastisch! Mit dem Rollstuhl…"

Marieke Vervoort

Und doch: Ihr Körper verträgt heute das Training nicht mehr:

"Die schlechten Momente kommen immer öfter. Ich habe nicht mal vier gute Tage in der Woche. Deshalb muss ich erst recht jeden Moment genießen. Ja, wenn du mir vor ein paar Jahren gesagt hättest, dass jemand jede Nacht bei mir sein muss, ich hätte das nicht gewollt. Damals wollte ich lieber sterben als ständig jemanden um mich zu haben. Man muss auf so viel Privatleben verzichten…"

Marieke Vervoort

Sie will nicht in einem schlechten Moment sterben, sondern klar und an der Seite von Freunden. Davon hat sie viele, mit denen sie gerne feiert. Aber sie müssen auch immer darauf gefasst sein, dass Marieke plötzlich wegknickt wie jetzt. Da helfen auch keine Schmerzmittel mehr. Immer mühseliger der Kampf zurück ins Bewusstsein.

"Ich will nicht so 'ne Beerdigung. Ich will, dass jeder ein Glas Champagner auf mich erhebt, auf das schöne Leben, das Marieke gehabt hat. Ich will keine heulenden Leute. Ich konnte trotz oder wegen der Krankheit Dinge tun, von denen andere nur träumen können."

Marieke Vervoort

Paradox: Weltberühmt wurde Marieke Vervoort zwar mit dem Wunsch nach Sterbehilfe, aber in Belgien bewundert man sie für das komplette Gegenteil: ihren unglaublichen Überlebenswillen.


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