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Schnee und Äquatorsonne im Quellgebiet des Orinoco Bergsteigen in Kolumbiens Sierra Nevada

Eine lange Tagesreise führt von der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá nach Nordosten in den Nationalpark „El Cocuy“, der sich in der Ostkordillere der Anden, unweit der Grenze zu Venezuela befindet. Über 5000 Meter hohe Gipfel ragen hier auf und bilden das Quellgebiet des Orinoco, des viertgrößten Flusses der Erde.

Author: Georg Bayerle

Published at: 18-3-2023

Schnee und Äquatorsonne im Quellgebiet des Orinoco  | Bild: BR; Georg Bayerle

Obwohl die Region nur fünf Grad nördlich des Äquators liegt, gibt es hier Eis und Schnee unter der Tropensonne und somit sehr spezielle Bedingungen für Bergsteiger in einer ebenfalls sehr besonderen und geschichtsträchtigen Gebirgslandschaft.

Die Cabana Sisuma

Wohltuend weckt der Klang von Küchengeräuschen die Aussicht auf eine warme Suppe in der 4000 Meter hoch gelegenen Cabana Sisuma. Draußen jagt der Wind Nebelfetzen und Regenfeuchte durch die kahle Landschaft. Eine Gruppe Münchner Lehrerinnen hat auf der Rucksackreise durch Kolumbien eigens einen großen Schlenker gemacht, um das hier zu erleben. So recht warm allerdings will es drinnen nicht werden, nur ein einfacher Herd steht zum Kochen da.

In der Genossenschaftsküche

Wilson Torres, ein schlanker Mann mit sichtbar indigenen Wurzeln, der von einem Bergbauernhof der Gegend stammt, gehört hier zum Hüttenteam und kennt die besondere Geschichte des traditionellen kollektiven Wirtschaftens. Seit 2004 ist Wilson Mitglied einer Bergagentur, die aus 16 Familien besteht. Es geht darum, für alle Beteiligten ein Zusatzeinkommen zu schaffen und dazu gehört es auch, die Cabana Sisuma zu bewirtschaften. Am Anfang gab es nur vier Lagerplätze und sechs Teller, jetzt sind es 16 Plätze und 20 Teller. Alle Beteiligten bringen ihre Arbeitsleistung mit ein, als Bergführer, in der Verwaltung, in der Produktion der Lebensmittel und in der Bewirtschaftung der Hütte. Keiner bekommt Geld ausbezahlt, sondern alle werden mit Dingen entlohnt, die ihren Lebensstandard oder ihre Tätigkeiten verbessern, zum Beispiel mit Jacken und Hosen oder auch Steigeisen und Rucksäcken.

Die Hütte selbst wurde 1980 vom Nationalpark gebaut, geriet dann aber in die Verwicklungen des Guerillakriegs: Nur zwei Wandertage von der venezolanischen Grenze und dem Dschungel entfernt, ist die Cabana Sisuma sozusagen auch ein strategisches Sprungbrett für ganz Zentralkolumbien. Junge Männer wie Wilson waren immer auch von Zwangsrekrutierungen bedroht. Es gleicht einem kleinen Wunder, dass zumindest zeitweise Frieden eingekehrt ist – auch mit den Indigenas, den Ureinwohnern, die hier einen ihrer Rückzugsorte haben. Die U’was gehören zur gleichen Sprachfamilie wie die legendären Muiscas aus der Zeit der spanischen Eroberung. Es sind die letzten Familien, die auf kolumbianischem Boden geblieben sind. Sie haben sich zurückgezogen in die Berge und werden bedroht von Ölförderungen, aber auch von den Weißen, die in ihre Gebiete eindringen, sowie von den bewaffneten Gruppen der Guerilla und den paramilitärischen Einheiten.

Die Paramó typischen Frailejones in der Blüte

Die Bemühungen um eine Befriedung der Sierra Nevada del Cocuy ermöglichen es Touristen, diese einzigartige Landschaftsform des Paramó kennenzulernen - eine Spezialform jener tundra-artigen Gebirgslandschaften unter der Äquatorsonne. Die prägenden Gewächse sind die Frailejones, die „Klosterbrüder“ oder botanisch korrekt „Espeletia“, bei dem es sich um einen Korbblütler mit einer aus einem Büschel länglicher Blätter herausragenden prächtigen Blütenstaude handelt, die über die Jahrhunderte zu meterhohen Stämmen mit Blätterkopf aufwachsen.

Von der Sisuma-Hütte geht es anderntags immer noch bei Regen und Schnee mitten durch die Frailejones auf einen 4800 Meter hohen Pass unter dem vergletscherten Bergmassiv des Pan de Azucar, des „Zuckerhut“ genannten Fünftausenders. Auch ein paar junge kolumbianische Touristinnen in Gummistiefeln begegnen uns schnaufend. Die Kauffrauen aus Bogotá freuen sich, ihr Land kennenzulernen und hier eine einzigartige alpine Erfahrung zu sammeln. Fröstelnd kehren die bergunerfahrenen Städterinnen allerdings bald um.

Der Pulpito del Diablo ist fast 5000 Meter hoch

Weiter oben liegt ein weites felsiges Plateau mit einer, dem Zuckerhut-Gipfel vorgelagerten markanten Felsstufe, dem „Pulpito del Diablo“, der Kanzel des Teufels. Der Name stammt aus spanischer Zeit, aber der Platz war lange zuvor schon ein besonderer Ort, berichtet Wilson. Die Indigenas glauben, dass die Sonne hinter diesem Berg die Erde befruchtet hat. Die Gabe, die sie zurückließ, war das Gold. Daher heißt es, dass es in diesem Berg Gold gibt. Doch realiter gibt es ein paar schöne Höhlen mit Stalaktiten, aber kein Gold. Für die Indigenas aber bleibt der Pulpito del Diablo ein heiliger Berg mit dem Sonnentempel für Mutter Natur.

Die Gerüchte vom Gold hörten vor knapp 500 Jahren auch die spanischen Eroberer. Sie folgten den alten indianischen Handelswegen zwischen dem heißen Tiefland auf der Ostseite und dem kühlen kolumbianischen Hochland im Westen, die durch diese Aufgipfelung getrennt werden.

Das Valle de los Frailejones

Für den weiteren Aufstieg ist das Wetter heute zu schlecht, der noch 300 Meter höhere Zuckerhut steckt in Nebel und Schnee. Ein langer Abstieg folgt dem nach den Espeletia-Stauden benannten Valle de los Frailejones hinunter zu den auf rund 3500 Metern Höhe gelegenen ersten Gehöften, zu denen auch eine zur Bergunterkunft umgebaute Finca der Vorfahren von Doris Ibanez gehört.

Doris mit einer ihrer Hütten auf der Finca

Doris ist im Alter von acht Jahren zum ersten Mal auf den Zuckerhut gestiegen und dann viele Male mehr. Als sie vor einigen Jahren nach längerer Pause wieder aufgestiegen ist, hatte sie fast vergessen, wie schön es dort aussieht auf dem weißen Riesenberg. Sie begann vor Ergriffenheit fast zu weinen und fühlte sich ihren Eltern und Großeltern in dieser Landschaft verbunden bin, hier am Fuß dieser außergewöhnlichen Sierra mit Schnee unter dem Äquator und auf der Schneide zwischen dem Amazonastiefland auf der einen und dem kolumbianischen Hochland auf der anderen Seite. Auch die Touristen sollen sich hier als Gäste wohlfühlen und müssen sich dann nur noch zwischen einem „Tinto“, dem wunderbaren schwarzen Kaffee, und einem Coca-Tee entscheiden.

Nach Jahren des Friedens hat sich die Situation in Kolumbien und in der Sierra Nevada del Cocuy zuletzt leider wieder verschlechtert. Aufgrund der problematischen Sicherheitslage sind derzeit nur Tagestouren möglich. Die Bedingungen müssen aktuell erfragt oder mit entsprechenden Bergreiseveranstaltern abgeklärt werden.


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