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Stille und Einsamkeit als alpine Erfahrungswelten Das Alleinsein im Gebirge

Stille, Einsamkeit, das Alleinsein mit sich selbst – es sind besondere Erfahrungen, die wir in diesen Wochen der Corona-Beschränkungen machen, zudem Erfahrungen, die wir als Bergsteiger oder Wanderer kennen und oft auch suchen, draußen, in den Bergen.

Von: Georg Bayerle

Stand: 18.04.2020 | Archiv

Stille und Einsamkeit als alpine Erfahrungswelten | Bild: BR; Georg Bayerle

Wir haben schon am vergangenen Wochenende die Sendung unter das Motto Kloster, Klausur und Spiritualität gestellt – heute geht es um Stille und Einsamkeit. Es sind die Themen, zu denen gerade Bergsteiger einen besonderen Bezug und besondere Antworten haben

Wo meine Grenzen liegen

Es ist einer dieser herausragenden Momente, wenn uns bewusst wird, dass wir uns in einem ganz anderen Raum bewegen als wir es gewohnt sind. So zum Beispiel einmal auf einer Skitour im Sellrain, wo beim Stehenblieben eine reine natürliche Stille zu „hören“ war. In diesen Wochen ist es selbst in einer Stadt wie München bei offenem Fenster still -  zu still für Einige. Wer hineinhorcht in diese irritierende akustische Leere, der macht eine elementare Erfahrung. Für den früheren Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher zählt die Stille zu den Erkenntnissen, die uns die Berge heute eröffnen können. Der moderne Mensch ist Stille kaum gewöhnt, resümierte er, sie ist eine Therapie für den modernen Menschen. Der selbst bergsteigende Bischof übertrug seine alpinen Erfahrungen in lebensphilosophische Überlegungen und suchte gerade diese Erlebnisse.

Man rivalisiert nur mit sich selbst

Einsamkeit und Stille sorgen dafür, dass die inneren Stimmen lauter werden. Manchmal beginnt man unwillkürlich ein Selbstgespräch, kletternd an einem einsamen Felsgipfel in den Lechtaler Alpen, wo sonst niemand auf dem Weg ist. In der Stille weitet sich der Raum noch mehr, gleichzeitig geht der Blick nach innen. Diese Erfahrungen können auch zu Herausforderungen werden, wenn der „Atem des Schweigens“, eine Formulierung des Schriftstellers Jorge Semprun, immer lauter und letztlich zu einer Angst wird. Genau in dieser grundlegenden Herausforderung hat auch der Wiener Psychologe und alpine Lebensphilosoph Viktor Frankl die Grundfrage beim Bergsteigen erkannt und betont, dass man beim Bergsteigen nur einen Rivalen hat: sich selbst. Dabei gilt es zu er erkunden, wo die eigenen Grenzen liegen.

Damit setzen sinnorientierte Handlungen an: Wer sich mit den Herausforderungen auseinandersetzt und dabei weiterkommt, erfährt Sinn in seinem Leben. Nur wer sich selbst überwindet, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche - auch er ein großer Verehrer der Stille und der Höhe und Weite der Berge - etwas dramatischer gesagt hätte, dem vermitteln die Berge allein durch ihr Dasein ganz andere Dimensionen von Größe und Zeit.

Die Berge sind schweigende Erzähler

Berge sind große schweigende Erzähler. Reinhold Stecher beschreibt die spirituelle Grunderfahrung, die wir so oft in den Bergen mehr oder weniger bewusst erleben und suchen. Vielen Wanderern und Bergsteigern dürfte deshalb das, was nun seit Wochen den Alltag prägt, nicht fremd sein. Dazu gehört auch die Achtsamkeit, die entsteht, wenn wir allein in der Stille unterwegs sind und ganz im Augenblick leben. So lehrt nicht zuletzt die Einsamkeit den Wert der Gemeinschaft mit ihrer zutiefst sozialen Komponente im Alpinismus - oder anders gesagt: In der Seilschaft bestimmt der Schwächste das Tempo.


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