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Marsica, Majella und Gran Sasso Unterwegs in den Abruzzen

Abruzzen - der Name klingt noch immer geheimnisvoll, und bis heute ist diese Region im Zentral-Apennin ein Geheimtipp für Wanderer und Bergsteiger, für Menschen mit Pioniergeist und Entdeckerfreude.

Von: Andrea Zinnecker

Stand: 27.05.2023

Eine Region für Menschen mit Pioniergeist und Entdeckerfreude

Bären und Wölfe sind eine Attraktion in den Nationalparks der Abruzzen

Bären und Wölfe, Gämsen und Schafe, Blaudisteln, Gelber Ginster und Weißdorn, Amatriciana und Arrosticini, Linsen und Safran, Engelspäpste und Mussolini-Relikte, mittelalterliche Burgen, trutzige Bergdörfer und Hochebenen wie in Tibet - all das gibt es in den Abruzzen. Der Name klingt noch immer geheimnisvoll, und bis heute ist diese Region im Zentral-Apennin ein Geheimtipp für Wanderer und Bergsteiger, für Menschen mit Pioniergeist und Entdeckerfreude. Das hätte eigentlich auch Johann Wolfgang von Goethe gefallen müssen. Doch der Herr Geheimrat hat auf seiner Italienischen Reise einen großen Bogen um die Abruzzen gemacht. Weil es dort seiner Ansicht nach nur „unfreundliche Menschen, Bären, Wölfe, Berge und Banditen“ gibt. Das mit den Banditen und unfreundlichen Menschen stimmt keinesfalls, aber Berge, Bären und Wölfe sind bis heute eine Attraktion in den insgesamt drei Nationalparks der Abruzzen.

Zur Realität der Abruzzen gehört aber auch, dass es immer wieder zu schweren Erdbeben kommt wie zum Beispiel im April 2009, als es vor allem das Gebiet um L’Aquila heftig traf und insgesamt an die 300 Todesopfer und über 1.500 Verletzte gezählt wurden. Schuld daran ist das Aufeinandertreffen der afrikanischen und eurasischen Platte in dieser Region.

Drei Nationalparks liegen in den Abruzzen

Im Süden liegt der wald- und bärenreiche Abruzzen-Nationalpark, übrigens der älteste Nationalpark Italiens, gegründet 1923, also vor 100 Jahren. Im Osten und quasi in der Mitte befindet sich der wasserreiche, hügelige Majella-Nationalpark und im Norden der raue, wilde Gran-Sasso-Nationalpark. Dieses Gebirgsmassiv steigt bis auf knapp 3.000 Meter Höhe an und der Corno Grande des Gran Sasso ist die höchste Erhebung des kontinentalen Italiens südlich der Alpen.

Geographisch betrachtet gehören die Abruzzen zu Mittelitalien, doch aus historischen Gründen gelten sie als nördlichste Region Süditaliens. Denn vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert waren sie den Herrschaftsgebieten von Sizilien und Neapel zugeordnet.

Majella lädt zum Wandern ein

Der Majella-Nationalpark wurde erst 1991 eingerichtet und umfasst rund 75.000 Hektar. Im Frühling lässt es sich in der Majella mit ihren 200 Zweitausendern, Olivenhainen und Weinfeldern besonders schön wandern, zum Beispiel zur Èremo di San Bartolomeo, der Einsiedelei des "Engelspapstes" Cölestin V., der erst mit 85 Jahren zum Papst ernannt wurde und nach drei Monaten im Amt den Vatikan wieder verließ und sich als Eremit in die Majella zurückzog, in seine Klause in der Santo-Spirito-Schlucht. Im kleinen Kur- und Badeort Caramanico Terme sind auch viele Römer zu Gast, meist zur Sommerfrische. Angenehm kühl ist es dann zum Beispiel in der Orfento-Schlucht mit ihren historischen Getreidemühlen. Sie ist acht Kilometer lang und reicht vom Gebirge bis hinab zu den Wein- und Olivenkulturen der Majella. Hier sind übrigens auch drei exklusive Nudel-Manufakturen ansässig, die handgemachte und bronzegeschnittene Pasta, an deren rauer Oberfläche der Sugo dann besonders gut haftet, in den Vatikan liefern. Dazu passt dann der Pecorino, sowohl der Wein als auch der gleichnamige Käse, beides typisch für die Abruzzen.

Orso bruno marsicano und andere Wildtiere

Orso bruno marsicano, Braunbär

Der Käse würde wohl auch dem „Orso bruno marsicano“ munden, dem Marsischen, Braunbären, einer stark gefährdeten Unterart des Braunbären. Im Abruzzen-Nationalpark hat er ein Rückzugsgebiet gefunden. Im Gegensatz zu den Brenta-Braunbären gilt er als sehr friedlich. Der Abruzzen-Wolf dagegen hat durchaus Appetit auf Schafe. Weshalb die kalbgroßen, schneeweißen Hütehunde, die berühmten Pastori Abruzzesi, ein spezielles Halsband mit Eisenstacheln tragen: den Antilupo. So kann sie der Wolf nicht angreifen und sie können ihre Schafherde beschützen. Vom Abruzzen-Nationalpark aus hat sich der einst gefährdete Wolf wieder in den gesamten Apennin ausgebreitet. Wölfe, Bären und die Abruzzen-Gams mit ihrem schneeweißen Halsband im Winterfell sind eine Attraktion im 56.000 Hektar großen “Parco Nazionale degli Abruzzi, Lazio e Molise“, dem ältesten Nationalpark in Italien. Das Bergdorf Pescassèroli ist ein idealer Ausgangspunkt für „tierisch“ schöne Wanderungen.

Pittoreske Bergdörfer und trutzige Burgen

Pittoreske, trutzige Bergdörfer prägen den Charakter der Abruzzen, so auch Rocca Calascio, eigentlich mehr Burg als Bergdorf, die höchstgelegene Burg der gesamten Apenninenkette und filmreif dazu: Auf Rocca Calascio wurde der „Tag des Falken“ gedreht, ein Fantasy-Historienfilm mit Michelle Pfeiffer. Die trutzige Burg - ein windumtostes Wolkenkuckucksheim - thront in rund 1.500 Meter Höhe auf einem kahlen Hügel, nicht weit entfernt von L’Aquila.

Bergdorf Roccamorice

Vor über 25 Jahren haben zwei „Aussteiger“ aus Rom begonnen, das verlassene und verfallene Bergdorf zu restaurieren. Längst ist Rocca Calascio wieder ein Schmuckstück und eine nicht alltägliche Unterkunft für Wanderer und Bergsteiger, in der auch die für die Abruzzen typische Pasta alla Chitarra auf den Tisch kommt. Ein eindrucksvoller Ort ist auch Pietracamela, auf rund 1.000 Meter Höhe an der Ostseite des Gran Sasso gelegen: grobsteinige Häuser, Kirche, Gasthaus, Brunnen und ein kleiner Lebensmittelladen. Pietracamela ist die Heimat der legendären Aquilotti, eine Gruppe excellenter Bergsteiger, Kletterer und Bergführer, die Anfang des 20. Jahrhunderts viele Routen im Gran-Sasso-Massiv eröffnet und markiert haben.

Die Erstbesteigung des Gran Sasso vor 450 Jahren

Ein Stück marginale Alpingeschichte wurde am Gran Sasso geschrieben, denn der Corno Grande, seine höchste Erhebung, wurde schon lange vor vielen Alpen- und anderen Gipfeln im August 1573 erstbestiegen, und zwar von Francesco de Marchi, einem Renaissance-Gelehrten aus Bologna, zusammen mit dem Gemsenjäger Jäger Francesco di Domenico, der hier geführt hat. Francesco de Marchi, der bei der Erstbesteigung bereits 69 Jahre alt war, stand dann lange im engen Beraterkreis der Margarethe von Parma, die sich im Alter auf ihren Landsitz in den Abruzzen zurückgezogen hatte.

Fluchtpunkt für Künstler und Komponisten

Aus den Städten flüchteten sich Künstler in die Abruzzen

Im 19. Jahrhundert flüchteten dann viele Künstler aus dem Trubel Roms in die wilden und einsamen Abruzzen und malten Hirten und Landschaften. Auch Musiker waren von Rom „überfordert“ und von den Abruzzen angezogen, allen voran Hector Berlioz. 1834 komponierte er „Harold en Italie“ - statt einer Alpensinfonie sozusagen eine melancholische Abruzzensinfonie mit Solobratsche und Erinnerungen an seine Wanderungen in den Abruzzen und Melodien, die er hier gehört hatte. Wahrscheinlich hat auch Georg Friedrich Händel während eines Romaufenthaltes diese Melodien aus den Abruzzen gehört und sie dann mit nach England genommen. In London komponierte er die Arie „He shall feed his flock“ ("Er weidet seine Herde") und unterlegte den Text auf die Melodie aus den Abruzzen. Jeder, der Händels "Messias" kennt, kennt damit auch dieses Lied aus den abruzzesischen Bergen.

Pasta all’amatriciana und Confetti

Pasta all‘ amatriciana

Die abruzzesische Küche ist geprägt von „Mare e Monti“, also von Kombinationen von zum Beispiel Meeres- mit Hülsenfrüchten. Aus den Bergen der Abruzzen stammt eine Spezialität, die auch bei uns wohl jede italienische Trattoria anbietet: die „Pasta all‘ amatriciana“ mit Tomaten, Bauchspeck, Peperoncino und Pecorino. Sie stammt aus Amatrice, einem kleinen Ort, der zwar schon etwas außerhalb der Abruzzen liegt, aber am Fuß des Monte Gorzano, einem wichtigen Gipfel der Abruzzen.

Kulinarisches Aushängeschild und auch aus der Hirtentradition stammend sind die „Arrosticini“: kleine, gegrillte Spieße mit Lammfleisch, das in magere und fette Stücke geschnitten wird, die dann wechselweise auf Holzstäbe gespießt und auf den Holzkohlegrill gelegt werden. Und es heißt: Wenn jemand ein Arrosticino in Ketchup tunkt, dann stirbt ein Abruzzese!

Ein typisches Dessert sind in Sulmona die sogenannten Confetti, die es hier seit dem 15. Jahrhundert gibt. Mit Fasching hat das nichts zu tun, nur der Name kommt daher: Konfekt, außen eine weiße, zarte Zuckerschale, innen eine Mandel, entweder zu bunten Blumen gebunden oder reinsortig in Säckchen gepackt „für den schönsten Tag im Leben“. Zur Geburt einer Tochter sind sie rosa gefärbt, bei einem Sohn hellblau, und sie gehören zu jeder italienischen Hochzeit. Heute werden sie verteilt, früher wurden sie geworfen – so wie heute die Confetti aus Papier im Karneval. In Sulmona kam 42 vor Christus übrigens der Dichter Ovid zur Welt. Und von ihm stammt ein bis heute bekanntes Zitat: "gutta cavat lapidem" - steter Tropfen höhlt den Stein.

Mussolini-Relikt und Kaiserfeld

Campo Imperatore

Rund um den „Großen Stein“, den Gran Sasso, ist der archaische Impetus der Abruzzen, der bukolisch-bäuerliche Charakter dieser Region noch intensiv zu spüren, auch bei einer Umrundung des Gran Sasso. Von Prati di Tivo führt der gut markierte Weitwanderweg „Sentiero Italia“ durch das für seine Flora bekannte Val Maone rund 1.000 Höhenmeter hinauf auf den knapp 2.400 Meter hohen Passo della Portella und südseitig hinab auf den Campo Imperatore zum gleichnamigen Berghotel. Hier wurde Benito Mussolini nach seinem Sturz als Regierungschef im Sommer 1943 festgehalten, nach zwei Monaten von einer deutschen Kommandoeinheit befreit und mit einem Fieseler Storch ausgeflogen. Das 2.130 Meter hoch gelegene Berghotel, leider auch eine Pilgerstätte für faschistoide Ewig-Gestrige, ist derzeit wegen Renovierung geschlossen.

Auch wenn sie noch so wild und abgelegen sind – immer schon waren die Abruzzen ein Stück Zeitgeschichte und ein Raum politischer Bewegung. Das spiegelt sich auch am Campo Imperatore, am „Kaiserfeld“, benannt nach Kaiser Friedrich II., der zeitweise im nahen L’Aquila residiert hat. Die zweitgrößte Hochebene Europas umfasst 80 Hektar Fläche und wird ihrer herben, baumlosen Landschaft und Einsamkeit wegen auch Klein-Tibet genannt: Zum Wandern wunderschön im Frühling, aber auch im Herbst, wenn das hohe Gras golden schimmert und mit zahlreichen Blaudisteln durchsetzt ist – Kaiserfarben!


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