Ein Mann schreitet festen Schritts durch Athen, sein Ziel: die Agora, der Versammlungsplatz der Stadt. In seiner Hand hält er eine alte Tonscherbe. Auf dem Platz angekommen, ritzt er einen Namen auf die Innenseite der Scherbe und wirft sie in einen Krug. Ihm tun es viele andere gleich: Es ist das Jahr 488 vor Christus und das erste Scherbengericht wird abgehalten.
Das Scherbengericht kann als eines der ersten Beispiele für eine Mehrheitswahl angesehen werden. Auch wenn damals gewählt wurde, um eine Tyrannis, eine Alleinherrschaft eines Mannes zu verhindern und ihn zeitweise ins Exil zu schicken, statt zum Beispiel eine Bürgermeisterin oder einen Bürgermeister zu wählen.
In den vergangenen 2.500 Jahren hat sich am Prinzip der demokratischen Mehrheitsfindung wenig geändert. Zwar gibt es verschiedene Mehrheiten, wie die einfache, die absolute oder die qualifizierte Mehrheit. Am Ende steht aber das Ergebnis: Was befürworten die meisten Wählenden? Das ist Status quo im Wahlsystem.
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Bei Entscheidungen alle mitnehmen
"Das Problem von Mehrheitsentscheidungen ist, dass Leute, die nicht mitgehen mit einer Entscheidung, sich am Ende nicht ausreichend gesehen fühlen", sagt Michi Schneider vom Verein Bluepingu in Fürth. Bürgerbeteiligung ist dem 35-Jährigen wichtig. Möglichst alle mitzunehmen bei Entscheidungen ebenso. In einem Projekt, der "Werkstadt Fürth 2031" [externer Link], möchte er Menschen dazu motivieren, sich für ihre Belange stärker einzusetzen. Dazu üben sie im Verein eine besondere Methode: das systemische Konsensieren.
"Magische" Entscheidungsfindung
"Dieser Workshop war magisch", sagt Michi Schneider mit einem Lächeln, als er sich an seinen ersten Kontakt mit der Methode zurückerinnert. Sie waren damals eine heterogene Gruppe, manche kannten sich untereinander nicht. Und dennoch seien sie innerhalb kurzer Zeit durch das systemische Konsensieren auf eine Entscheidung gekommen, die alle mittragen konnten.
Sie gingen von einer Grundidee aus: Die Stadt Fürth grüner zu machen. Dazu habe es jedoch tausende Optionen gegeben. Das Konsensieren, das Abwägen und Stricken von Ideen habe dann zu einer "gemeinsamen Identität geführt".
Systemisches Konsensieren: Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner
Es geht um die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Angenommen, ein Vorschlag erhält mit 51 Prozent die höchste Zustimmung. Dann wird in der Regel nach dem Mehrheitsprinzip entschieden, weil das die meisten befürworten. Das gilt aber auch, wenn 49 Prozent dagegen stimmen, die Mehrheit also denkbar knapp ausfällt. Eine große Anzahl Menschen würde demnach den Mehrheitsbeschluss dennoch ablehnen. Die Lösung wäre also ein Alternativvorschlag, für den sich zwar weniger Menschen direkt aussprechen, den aber insgesamt eine satte Mehrheit bereit wäre mitzutragen. Ein Kompromiss also, der aber eine Gemeinde, eine Bürgerschaft auch weniger spaltet.
Ein Beispiel: Bei einem Bürgerentscheid spricht sich eine Mehrheit für eine Umgehungsstraße um den Ort aus. Es bildet sich jedoch ein heftiger Widerstand, da für deren Bau ein großes Stück Wald gerodet werden müsste. Ein alternativer Vorschlag sieht die Änderung der Route vor. Dadurch würde der Fahrtweg zwar länger werden, doch nur ganz wenige lehnen die Route ab.
Einsame Entscheidungen: "Ein Touch von Macht"
Menschen haben einen ganz banalen Wunsch, sagt Michi Schneider. Der Wunsch nach "gesehen werden". Entscheidungen, die für ihn oft einen "Touch von Macht" ausstrahlen, bei denen häufig vorher schon feststeht, dass einer allein eine Entscheidung trifft, könnten die Menschen frustrieren. Konsensentscheidungen könnten solche Widersprüche auflösen, ist sich Michi Schneider sicher.
Kann das eine Blaupause für politische Entscheidungen sein? Um polarisierende Beschlüsse zu vermeiden? Michi Schneider sieht in der Politik einen häufig auftretenden Hinderungsgrund. "Ich glaube, man braucht eine Offenheit dafür, dass das, was ich jetzt im Kopf habe, am Ende des Tages nicht das ist, was wir gemeinsam entscheiden werden", so Schneider. Und bei Politikerinnen und Politikern schwebe oft das Parteiprogramm im Hintergrund.
Was sagen Politiker zum Konsensieren?
Der Fraktionsvorsitzende der Fürther CSU, Max Ammon, hält das systemische Konsensieren im Prinzip für eine sinnvolle Idee. Seiner Meinung nach sind absolute Mehrheiten schon lange ein Ding der Vergangenheit, ohne Kompromisse gehe es damit nicht. "Zumindest auf kommunaler Ebene ist uns bewusst, dass wenn wir eine Idee haben und diese auch umsetzen möchten, das nur geht, wenn man die Meinung anderer mit einbezieht", so Ammon. So schließe der Christsoziale und seine Partei immer wieder verschiedene Interessensgruppen und Vereine in Entscheidungen mit ein. Beispielsweise werde derzeit ein Mobilitätsplan entwickelt, bei dem Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Kultur und Umweltschutz gemeinsam mitarbeiten.
Für die Bürger ja, im Stadtrat nein
Auch sein Konterpart bei der Fürther SPD, der Fraktionsvorsitzende Maurice Schönleben, sieht den Fürther Stadtrat und die Kommunalpolitik als Ganzes bereits als sehr konsensorientiert. Das Konsensieren sei "gelebte Praxis"; häufig spreche man vor Entscheidungen lange miteinander. Aber er sieht die Methode auch mit einer gewissen Skepsis: "Ich glaube, wenn man Bürgerdialoge oder Bürgerbeteiligung macht, kann es ein spannendes Instrument sein", für eine endgültige Entscheidungsfindung im Stadtrat könne Schönleben sich das aber nur schwer vorstellen.
Zudem ist er der Meinung, dass Politikerinnen und Politiker immer dann am besten fahren, wenn sie Politik machen, die Menschen begeistern kann. "Ich glaube, nur so kann Politik Vertrauen zurückgewinnen oder weiter aufbauen. Wir sollten Politik machen, die begeistert, anstatt nur darauf zu schauen, wo der geringste Widerstand liegt".
Bislang bleibt es beim Mehrheitsbeschluss
Die beiden Fraktionsvorsitzenden sind sich einig und zeigen bereits, wie Konsensieren zumindest auf kommunaler Ebene funktionieren kann.
Am Status quo der politischen Entscheidungsmethode wird das systemische Konsensieren aber erst einmal nicht rütteln. Und um eine Mehrheit zu finden, werden auch wir Bürgerinnen und Bürger am nächsten Wahltag wieder eine Scherbe ritzen, Pardon, ein Kreuz machen.
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