Kultur - Literatur


4

Franz Kafka Das kafkaeske Jahrhundert

Stand: 08.09.2011 | Archiv

Illustration: Käfer auf dem Bett | Bild: BR

Kafkaesk: Das Wort könnte einen Käfer beschreiben, der auf dem Rücken liegt. Gut möglich, dass sich Kafka angesichts der 99.600 Fundstellen, die Google für "kafkaesk" ausspuckt, ähnlich überfordert fühlen würde - noch drei Jahre zuvor waren es nur halbsoviele. Und doch könnte er stolz sein, dass die Nachwelt ihm allein unter allen Dichtern deutscher Zunge ein alltagsgebräuchliches Adjektiv widmet. Selbst der Klassenprimus aus Weimar muss da passen. 

Göthisch: Das Wort schaffte es nie aus den literarischen Salons auf die Straße.
Schillernd? Wie kantig, hessisch, grünbeinig, grassierend ein anderer Fall. Bleibt masochistisch: Der Begriff erinnert einen halb vergessenen Autor und ist, von diesem längst gelöst, ein Fall für sich - und die Psychologen.

Leiden in Österreich: Von k.u.k zu K.

"Venus im Pelz" heißt die 1870 erschienene Liebes- und Leidensgeschichte von Kafkas k.u.k.-Landsmann Leopold von Sacher-Masoch, die den Psychologen Krafft-Ebbing 16 Jahre später zur Definition des "Masochismus" inspirierte. Ihr Autor - Jude wie Kafka und zeitweise in Prag ansässig - litt lange und keineswegs lustvoll darunter, als Taufpate herhalten zu müssen. Als Erfolgsschriftsteller seiner Tage hatte er schließlich einen Namen zu verlieren.

Entfernt verwandt: Herr von S-M. Hier: "Der Dachboden von Sacher-Masoch" von Charles Matton

Franz Kafka kommt drei Jahre nach dem Begriff Masochismus zur Welt und bleibt ihm zeitlebens brüderlich verbunden. Das ominöse Wort mit den drei K ist damals noch ungeboren und gehört deshalb nicht zu den Dingen, die ihn quälen. Anders als Sacher-Masoch hat Kafka kaum Erfolg und keinen Namen zu verlieren; eigentlich hat er überhaupt keinen Namen, keine Heimat und als Rückzugsort nur das eigene Schreiben. Der Vater und Namensgeber bleibt Kafka bis zum Tod fremd, ja Furcht erregend. Sein Vaterland verwandelt sich 1919 in eine mehrsprachige Ansammlung von Amtsgewalten. Konsequent versieht Kafka mehrere seiner literarischen Alter Egos mit dem kryptischen Initial K.

Kafkaesk: Die große -losigkeit

Hilflos

"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."
Franz Kafka, Die Verwandlung

Grundlos

"Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."  
Franz Kafka, Der Prozess

Hoffnungslos

"Du musst nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze zur Maus und frass sie."
Franz Kafka, Kleine Fabel

Richtungslos

"Von mir willst du den Weg erfahren?" "Ja", sagte ich, "da ich ihn selbst nicht finden kann." "Gibs auf, gibs auf", sagte [der Schutzmann] und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
Franz Kafka, Gibs auf

Schwerelos

K. lachte die Tür an. 'Ihr Lumpen', rief er, 'ich schenke euch alle Verhöre', öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter.
Franz Kafka, Der Prozess  

Letzter Wille: Ungelesen bleiben

Namenlos wie viele seiner Figuren will Kafka bleiben, besser: er glaubt, dazu verurteilt zu sein. Sein letzter Wille: Fast alles, was er geschrieben hat, soll "restlos und ungelesen" verbrannt werden. Weniges nur lässt er gelten; nicht ohne anzufügen: "Wenn ich sage, dass jene fünf Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden (...)". Dass wir das Wort kafkaesk heute kennen, verdanken wir zuerst Kafkas Freund Max Brod, der sich dem Testament widersetzte und die Verbreitung seiner Schriften betrieb.

Kaflaesk: was Kafka nicht ist

Gruß vom Züchter: Die Dahlie "Franz Kafka"

Max Brod verdanken wir auch die erste Erwähnung des Wortes. Kafkaesk, soll er schon 1921 bemerkt haben, sei genau "das, was Kafka nicht ist". Die Bedeutung des Wortes ist nach wie vor rätselhaft - jedenfalls ist rätselhaft eine Bedeutung des Wortes. Dunkel, bedrohlich, fügen die Wörterbücher noch an, entfremdet, verzweifelt, absurd. In toto: Das Ausgeliefertsein an absolute Mächte, deren Urteilen und Tun sich unserem Wollen und Verständnis ebenso absolut entziehen.

Kafkaesk wäre dann auch: Dass der beste Freund die Allmacht des Überlebenden missbraucht und den heiligen letzten Willen missachtet, um das Werk vorm Todesurteil seines Schöpfers zu retten. Dass stattdessen die Nazis als gnadenlose Parodisten der "Strafkolonie" Kafkas Werke "restlos und ungelesen" vernichten wollen und seine drei Schwestern 1942 im KZ ermorden. Dass der wirkungsmächtigste deutschsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts unter Tschechen lebt und posthum von Engländern und Franzosen entdeckt wird, die auch das Wort "kafkaesque" prägen. Öffentlichkeitswirksam wird der Begriff in einer englischen Besprechung im Pogromjahr 1938.

In den 50er-Jahren kommen erst Kafka, dann das Kafkaeske beängstigend in Mode. Das Adjektiv dient zunehmend der Beschreibung diversester Zumutungen der (Post-)Moderne und macht dabei Verwandlungen durch, die Gregor Samsa vergessen lassen. Die Google-Suche findet - neben Aussagen zum Dichter - Erlebnisse mit Telefonhotlines, Elektrosmog, der Willkür von Universitätsverwaltungen und mexikanischen Polizisten, dazu die allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Antiquariats und die Website eines Bowling-Clubs. Manches hätte Kafka mit Interesse gelesen; bei anderem seinem Kenner Klaus Wagenbach recht gegeben: "Heute ist kafkaesk einfach ein ganz normales deutsches Wort geworden, das man benutzt, wenn einem sonst nichts mehr einfällt." 


4