Kultur - Literatur


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Martin Sperr Landluft und Höllenschwaden

Ein Hauch von Skandal weht die ganzen 57 Jahre seines Lebens um diesen Sperr: Er hasst die Provinz, wie es nur einer aus der Provinz kann. In den großen Städten haben seine "Jagdszenen aus Niederbayern" Erfolg. Beim Reifenwechsel holt den Rastlosen das Schicksal ein.

Von: Michael Kubitza

Stand: 01.04.2019 | Archiv

Martin Sperr und ein Zitat von ihm | Bild: BR, picture-alliance/dpa, Montage: BR / Christian Sonnberger

Geboren wird Martin Sperr 1944 unweit von Dingolfing am Ufer der Vils – ein sanfter Fluss in brutaler Zeit. Sperrs Lebenslinie gleicht einem groben Zickzack: Eine schwierige Kindheit, jäher Ruhm ohne Bestand, Landleben und Großstadt im Wechsel, eine beeindruckende Liste abgebrochener Ausbildungen und ausprobierter Berufe, schließlich eine Krankheit mit schwankendem Verlauf. Wann immer Martin Sperrs Leben eine Richtung zu nehmen scheint, ist der Wendepunkt nicht weit. 

Heimatsuche auf der Bühne

Arrangieren mag sich der Lehrersohn von Anfang an nicht. Nicht mit den Barmherzigen Brüdern, auf deren Internat er geht, nicht mit dem Brotberuf als Industriekaufmann, den die Eltern für ihn vorgesehen haben. Lieber versucht er sein Glück am Max Reinhardt-Seminar in Wien. "Mangels Begabung" ist er auch dort bald wieder draußen, wechselt er nach Bremen. Er jobbt als Hilfsarbeiter und Nachtportier, vor allem aber als Schauspieler und Regieassistent. Der richtige Ort zur richtigen Zeit: Um 1970 machen auch Zadek, Fassbinder und Peter Stein in Bremen Theater. 

"Jagdszenen in Niederbayern": Inszenierung in Cottbus 1998

Auf offener Bühne, fern der unvertrauten Heimat stellt er seine Außenseiter-Erfahrungen ins Rampenlicht. Den Mut holt er sich von einer wieder entdeckten Volkstheater-Ikone aus Ingolstadt: Marieluise Fleißer, die, fast 70-jährig, die jungen Wilden Sperr, Fassbinder und Krötz "adoptiert" wie diese ihre Sprache adaptieren. Die zutiefst pessimistischen "Jagdszenen aus Niederbayern" werden sein erster und einziger Triumph, mit dem Gerhart-Hauptmann-Förderpreis ausgezeichnet und verfilmt. 1967 reüssiert Sperr als Schauspieler und Hausautor der Münchner Kammerspiele. Seine vier Stücke aus dieser Zeit gehören für einige Jahre zum Stamm-Repertoire deutscher Bühnen und machen ihn zum gefragten Stofflieferanten des Autorenkinos.

Schicksalsschlag beim Reifenwechsel

1972 holt ihn das Unglück ein: Beim Reifenwechsel platzt dem Pendler einer Ader im Gehirn. Über Jahre bleibt er halbseitig gelähmt. Gedächtnisstörungen, epileptische Anfälle und Hungerattacken stören seine Produktivität empfindlich. Erfolglos versucht er sich als Koch und besucht eine Massageschule, erfolgreicher agiert er auf der Bühne. Hin und wieder steigt er noch hinab ins bayerische Volksleben vergangener Tage und fördert faszinierende Biografien ans Licht: film- respektive bühnenreif die Lebensgeschichte des Räubers "Mathias Kneißl" (verfilmt von Wilhelm Hauff) und der Bankrotteurin Adele Spitzeder (Peer Raben). 

Soviel Aufregung die "Jagdszenen in Niederbayern" dort wie andernorts verursacht haben: dass ihr Autor ab den 80er-Jahren wieder in Landshut wohnt, kriegt außer einigen Interessierten kaum noch jemand mit. 2002 stirbt Sperr im Alter von 57 Jahren.

Werke (Auswahl)

1966

Jagdszenen in Niederbayern

Sein Erstling, und was für einer! Es geht um Reinöd, ein Dorf kurz nach dem Krieg irgendwo in Niederbayern und seine moralisch verwahrlosten Bewohner: Die Witwe Maria und ihr debiler Sohn Rovo; ihr Knecht und Geliebter mit dem Holzbein; die "Dorfhure" Tonka; Abram, der vielleicht schwul ist, vielleicht auch nicht. Zwei der fünf sind am Ende tot, einer im Knast. Die Premiere in Bremen wird eine Sensation. Peter Fleischmanns Verfilmung, in der neben Sperr auch Angela Winkler (Bild) und Hanna Schygulla zu sehen sind, macht aus Reinöd Unholzing - die zutiefst pessimistische Sicht der Welt als Dorf aber bleibt und überzeugt auch auf den Filmfestspielen in Berlin und Cannes.

1972

Bayerische Trilogie

Liegt es am plötzlichen Erfolg? Dem neuen Leben des Jungen aus der Provinz? Der Schauplatz seiner Dramen jedenfalls weitet sich: Sein zweites Stück, die "Landshuter Erzählungen", spielt in der Provinzhauptstadt und beschreibt den erbarmungslosen Kampf zweier Bauunternehmer im heraufglühenden Wirtschaftswunder. Mit dem dritten Streich ist Sperr, inzwischen künstlerisch arriviert, in München sowie in der Gegenwart angekommen. Gier und Niedertracht, zeigt die "Bayerische Trilogie", sind eben überall zuhaus.

1977

Die Spitzeder

30 Jahre später so aktuell ist wie bei der Premiere: Die praktisch fast ganz wahre Lebensgeschichte der Adele Spitzeder. Die Dame war Volksschauspielerin, 1832 in Berlin geboren. Von sich reden machte sie in München, wo sie sich als Bankerin und Spekulantin betätigte und zehntausende meist einfache Leute um mehrere Millionen Gulden brachte. Peer Raben bringt den Stoff nach einem Drehbuch von Sperr ins Fernsehen; in der Titelrolle überzeugt Ruth Drexel. Später bearbeitet der Autor sein Stück für die Bühne und erhält den Mülheimer Dramatikerpreis. Im Bild: Schauspieler des Off-Theaters "Engelbrot", die mit einem "Adele Spitzeder Denkmal" vor der Berliner Börse demonstrieren.

"Willst du Giraffen ohrfeigen ..."

Ein schwieriges Leben und düstere Stoffe: Wer Sperr nicht auf der Bühne erlebt hat, bekommt leicht ein falsches Bild. Sperr hatte Humor, wenn auch abgründigen, die Körperfülle seiner späten Jahre setzte er im besten Sinne bühnenfüllend ein. Gut und gern rezitierte er - wenn ihn der Alkohol nicht daran hinderte - die hinterfotzigen Nonsens-Gedichte, die er zeitlebens schrieb. Einige kompilierte er 1979 beim Münchner Kleinverlag Huber und Klenner. Titel: "Willst Du Giraffen ohrfeigen, mußt Du Niveau haben". Wer die Giraffen im Antiquariat entdeckt, sollte zugreifen

Lebensdaten

* 14. September 1944 in Marklkofen/Niederbayern
+ 6. April 2002 in Landshut  


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