Kultur - Literatur


18

Frank Wedekind Bürgerschreck und Suppenkasper

Was, bitte, war eigentlich so neu an 1968? Kein Pulverfass, das Frank Wedekind nicht schon 70 Jahre zuvor aufgemacht hätte: Politischer Protest, Generationskonflikte, freie Liebe, alles höchst modern zu Papier und auf die Bühne gebracht. Und, ach ja: Auch die Brühwürfelwerbung revolutionierte Wedekind.

Von: Michael Kubitza

Stand: 01.04.2019 | Archiv

Frank Wedekind und ein Zitat von ihm | Bild: BR, picture-alliance/dpa, Montage: BR / Christian Sonnberger

* 24. Juli 1864 in Hannover
+ 9. März 1918 in München

Es geht schon gut los: "Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht?" pflaumt Wendla ihre überforderte Mutter an, und dass sie lieber ihr zu klein gewordenes "Prinzesschenkleid" anziehe als "diese Nachtschlumpe". Im zweiten Akt von "Frühlings Erwachen" wird Wendla ungewollt schwanger, die ebenso unfreiwillige Abtreibung im dritten überlebt sie nicht.

Wedekinds erstes publiziertes Stück, das 1891 Zürich erregt, hat in Deutschland erst 1906 Premiere und kommt, wie manch anderes von diesem Autor, zunächst mehr vor Gericht als im Theater zur Aufführung. Es passiert Skandalträchtiges, auf offener Bühne wie in Wedekinds Leben.

Taufname: Benjamin Franklin

Am 24. Juli 1864 wird Wedekind als zweites von sechs Kindern eines Arztes in Hannover geboren und auf den Namen des US-Präsidenten Benjamin Franklin getauft. Sein Vater war nach der Enttäuschung über die 1848er Revolution nach San Francisco ausgewandert und hatte dort die Schauspielerin Emilie Kammerer, Tochter des Streichholz-Erfinders, geheiratet. 1864 kehrte das Ehepaar mit amerikanischem Pass nach Hannover zurück, nur um 1871 aus Protest gegen Bismarcks Reichsgründung "von oben" in die Schweiz überzusiedeln.

Behütet wächst der Bürgerssohn auf, und natürlich studiert er: erst Literatur in Lausanne, später Jura in München und Zürich. Seine Grundausbildung im Dichten absolviert er, als der Vater dem verbummelten Studenten die Schecks sperrt und Wedekind die Bekanntschaft des Jungunternehmers Julius Maggi macht. Für zunächst einen Franken verfasst der 22-Jährige Reklametexte, manchmal 18 Stück in einer Woche.

Erst Reklame, dann Reclam

Es liegt in der Natur des Menschen, daß er Dinge, die ihm am unentbehrlichsten sind, am meisten verachtet", schreibt Wedekind 1886. Spielt er auf Sex an? Auch. Eigentlich geht es um ein neues Produkt, das die Kochgewohnheiten nicht nur der Schweizer revolutionieren will: Brühwürfel. "Alles Wohl beruht auf Paarung./Wie dem Leben Poesie/Fehle Maggi's Suppen-Nahrung/Maggi's Speise-Würze nie!" Wedekinds pointierte Sprüche und Mini-Szenen sind so neu wie Maggis Kreation, mischen Alltag und hohen Ton, lappen bisweilen ins Dadaistische.

Ungewohnt ist auch, dass ein - damals freilich noch ungedruckter - Dichter Reklame macht; erst später folgen Brecht, Tucholsky, Kästner und andere. Sein Auftraggeber Maggi bewertet Wedekinds Arbeit mit Schulnoten, findet dies "famos", jenes "recht für den Leierkasten". Den subversiven Unterton überhört der Schweizer: "Vater, mein Vater! Ich werde nicht Soldat, dieweil man bei der Infanterie nicht Maggi-Suppen hat. - Söhnchen, mein Söhnchen! Kommst Du erst zu den Truppen, so ißt man dort auch längst nur Fleischconservensuppen."

Bald bringt Wedekind Texte in der Neuen Zürcher Zeitung unter, arbeitet  als Theaterdramaturg und als "Zirkussekretär", was ihm bleibenden Eindruck macht. 1895 hat die Not ein Ende: Sein Vater stirbt, Benjamin Franklin Wedekind, von jetzt an schlicht Frank, erbt und lebt als Privatier in Berlin und Zürich, London und Paris. Meist aber trifft man ihn in München, wo er schnell zum Fixpunkt der Schwabinger Bohème wird.

Festungshaft und Bühnenerfolg

Hier gehört Wedekind zu den Mitarbeitern der satirischen Zeitschrift "Simplicissimus". Seine Spottverse "Meerfahrt" und "König David" über eine Reise Kaiser Wilhelms II. nach Palästina im Jahre 1898 bringen ihm eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung ein. Ein Jahr später muss er deshalb eine sechsmonatige Festungshaft antreten. Um 1900 tritt der Autor auch als Schauspieler auf, nicht nur in eigenen Stücken, dazu als Rezitator und Sänger. Das Kabarett hat es ihm angetan: in Berlin Ernst von Wolzogens "Überbrettl", in München die "Elf Scharfrichter".

Frank Wedekind und seine Frau Tilly in "Erdgeist" an den Berliner Kammerspielen 1913

Wegweisend aber wird er als Dramatiker. Seine Einflüsse - der Naturalist Gerhart Hauptmann, bald auch Georg Büchner und August Strindberg - bleiben vernehmbar, und doch findet Wedekind eine eigene Sprache. Für jede Szene wählt er eine andere Tonlage, mischt Stilebenen von der Boulevardkomödie bis zum sozialkritischen Gesellschaftsdrama. Dazu legte er seinen Figuren bald Jargon, bald Bibelsprüche und Apercus in den Mund. Wenn der jugendliche Selbstmörder Moritz in "Frühlings Erwachen" dem Grab entsteigt, geben sich Büchner und Beckett, Shakespeares Hamlet und Schichtls Hinrichtungstheater vom Oktoberfest ein Stelldichein.

"Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. - Der Mond verhüllt sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar gescheiter aus."

  Wedekind, Frühlings Erwachen, letzter Akt

Verdorbene Zeiten

Sein Generalthema ist, in Leben und Werk, die Sexualität. In "Die junge Welt" (1890) und "Frühlings Erwachen" (1891) versuchen die pubertierenden Helden verzweifelt, sich mit teils sadomasochistischen Phantasien gegen die als feindlich empfundene Erwachsenenwelt zu behaupten.

Weitere Werke

1890 - Kinder und Narren
1891 - Liebestrank
1897 - Kammersänger
1901 - Marquis von Keith
1902 - Tantenmörder
1902 - So ist das Leben
1904 - Hidalla
1905 - Totentanz
1907 - Musik
1907 - Zensur
1908 - Oaha
1909 - Stein der Weisen
1911 - Franziska
1914 – Bismarck
1915 - Überfürchtenichts

Für Furore sorgt Wedekinds Tragödie "Lulu", die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Kindfrau und Sexgöttin. Den ersten Teil ("Der Erdgeist", 1895) empfindet das bürgerliche Theaterpublikum als Skandal; nicht besser ergeht es dem zweiten Teil ("Die Büchse der Pandora", 1904). Auf der Bühne werden Lulus freizügige Erotik und ihr Opportunismus der Titelheldin zum Verhängnis, in der wilhelminischen Realität ein Theaterskandal. In einigen Figuren erkennt sich das Bürgertum wider. 

Wedekinds Dramen werden als unsittlich gebrandmarkt und zeitweise verboten. Dennoch gehören sie zu den meistgespielten vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Daran ändert auch Wedekinds Tod 1918 nichts, ebensowenig der Skandal, als bei der Beerdigung auf dem Münchner Waldfriedhof etliche Prostituierte dem Dichter ihre Reverenz erweisen.

Zurück in die Schule

Den Nationalsozialisten ist Wedekinds Werk begreiflicherweise suspekt, ebenso der Adenauerzeit. Seit den 60er-Jahren gibt es wieder viele, zum Teil spektakuläre Inszenierungen, etwa von Peter Zadek. Margarethe von Trotta inszeniert 1997 Alban Bergs 60 Jahre zuvor entstandene Opernfassung der "Lulu"; Feridun Zaimoglu und Günter Senkel verlegen die Handlung für die Münchner Kammerspiele 2005 in die Einsamkeit eines Chatrooms. Noch immer streiten Mütter und Töchter am Morgen um die Rocklänge; am Vormittag aber stehen Wedekinds einst verbotene Stücke auf dem Stundenplan.


18