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Ausstellungsreihe Juden 45/90 Gestrandet im Land der Täter

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es nach dem Holocaust für kurze Zeit ein reges jüdisches Leben in Bayern gab. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum München beleuchtet nun das Schicksal von Überlebenden aus Osteuropa.

Von: Annette Walter

Stand: 30.11.2011 | Archiv

"Von da und dort - Überlebende aus Osteuropa" Jüdisches Museum München | Bild: BR/Max Hofstetter

Ein schäbiger Wintermantel rettete Haya Shwartzman das Leben. Ein Mantel, den jeder Westeuropäer heute in die Altkleidertonne werfen würde. Die Jüdin bekam ihn während des Zweiten Weltkriegs von ihrem Cousin. Beide waren im Konzentrationslager Stutthof interniert. Das Kleidungsstück schützte die im heutigen Litauen geborene Frau vor der Kälte des Winters. Shwartzman trug ihn bei der Befreiung durch die US-Amerikaner. Er sollte sie weiterbegleiten, denn Stoff war rar in der Zeit des Nachkriegselends. So ließ sie aus dem Mantel ihr Hochzeitskleid schneidern.

"Aus dem Symbol der Ausgrenzung wurde so ein Symbol des Stolzes", sagt Jutta Fleckenstein. Zusammen mit Tamar Lewinsky ist sie Kuratorin der Ausstellungsreihe "Juden 45/90" im Jüdischen Museum München und wurde dabei unterstützt von Piritta Kleiner. Der erste Teil mit dem Titel "Von da und dort - Überlebende aus Osteuropa" hat jetzt eröffnet. Der Abdruck des Judensterns auf dem Stoff ist - obwohl Shwartzman den Stoff auf die Innenseite drehte - noch immer zu sehen. Spuren, die bleiben.

Durchgangsstation Deutschland

"Displaced Persons"

Zu den "Displaced Persons" (vom englischen Verb "to displace", auf Deutsch "verschleppen", "verdrängen") die aus ihrer Heimat vertrieben oder geflohen waren, gehörten Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und Partisanen, die meisten davon Juden. Viele Häftlinge aus Konzentrationslagern in Zentral- und Osteuropa flüchteten in die westliche Besatzungszone, vornehmlich nach Bayern. Etwa 60.000 bis 70.000 Juden hielten sich nach Kriegsende in Deutschland auf. Die meisten dieser KZ-Überlebenden stammten aus Polen, Litauen und Ungarn. Eine Rückkehr in ihre Heimat war unmöglich. Deutsche Juden waren in der Minderheit. In Westdeutschland wurden deshalb mehrere hundertausend DPs in Lagern untergebracht.

Das Kleid von Haya Shwartzman hat den Weg in die Ausstellungsreihe im Jüdischen Museum München gefunden, denn Textilien spielen eine zentrale Rolle. Aber nicht nur Textilien, sondern unzählige weitere Exponate, viele davon erstmals in einem Museum zu sehen, erzählen die Geschichte der überlebenden "Displaced Persons" (abgekürzt DPs) nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutschland wurde nach 1945 zu einem vorübergehenden Aufenthaltsort für Zehntausende Holocaust-Überlebende, aber auch für Flüchtlinge aus Osteuropa. In der amerikanischen Besatzungszone lebten Anfang 1946 insgesamt 40.000 jüdische DPs. Zehntausende polnische Juden kamen im Verlauf des Jahres dazu. Sie fanden sich wieder in dem Land, dessen nationalsozialistisches Regime sie zuvor gnadenlos verfolgt und ermordet hatte. Um die Menschen unterzubringen, wurden die DP-Lager eingerichtet, maßgeblich vorangetrieben von den Alliierten und der Nothilfe -und Wiederaufbauorganisation der Vereinten Nationen. Lea Fleischmann, 1947 im DP-Lager Ulm geboren, schreibt im Katalog zur Ausstellung von "ausgemergelten Gestalten, die direkt vom Konzentrationslager in die DP-Lager wanderten, halb verhungerte Holocaust-Überlebende, deren Zuhause die Gräber der umgekommenen Verwandten sind". So richteten sich die Überlebenden in Bayerns DP-Lagern ein, so gut es ging.

DP-Lager Föhrenwald

DP-Lager Föhrenwald

Das DP-Lager in der heutigen Siedlung Waldram bei Wolfratshausen, knapp 25 Kilometer südlich von München, existierte von Kriegsende an zwölf Jahre lang. Errichtet in einer ehemaligen NS-Arbeitersiedlung, schwankte die Bewohnerzahl in den Jahren 1945 bis 1957 zwischen 3.000 und 5.300 Menschen.

In Deutschland zu bleiben, das war für viele DPs keine Option. Auswandern wollten sie. Hauptsache, dem Land der Täter entkommen. Doch die Grenzen der Länder erschienen nach dem Zweiten Weltkrieg unüberwindbar. Eine chronische Lungenkrankheit? Schon wurde die Emigration zum unerreichbaren Ziel. Doch das Lager war für die Bewohner nur eine Durchgangsstation. Sie hofften auf ein neues Leben in Israel und den USA, saßen buchstäblich fortwährend auf gepackten Koffern, immer in Wartestellung. Eine dauerhafte Heimat waren die DP-Lager, darunter Föhrenwald, nie.

Heimliche Hauptstadt München

München selbst wurde zur inoffiziellen Hauptstadt des geretteten Restes, der sogenannten Sche'erit Hapleta. So nannten sich die Juden, die überlebt hatten, selbst. Das DP-Lager, das am längsten existierte, war Föhrenwald. Ihm widmet die Ausstellung eine Ebene. Zitate von ehemaligen Bewohnern bezeugen, wie entbehrungsreich das Leben dort war:

"Die Deutschen aus der Umgebung ... hielten die Displaced Persons für Verbrecher. Das war die logische Folgerung daraus, dass sie Häftlinge gewesen waren."

Lily Brett, US-amerikanische Schriftstellerin, zitiert in einem Essay ihren Vater

Die Schriftstellerin Savyon Liebrecht, die für die Ausstellung einen Essay über eine Mesusa verfasst hat (eine Mesusa ist eine Schriftkapsel, die zwei Passagen aus der Tora enthält und an einem Türpfosten befestigt wird), erzählt, dass sie in einem Münchner Krankenhaus zur Welt kam. Ihren Eltern war es wichtig, dass sie nicht "hinter Stacheldraht in einem DP-Lager geboren" wurde.

DP-Lager in Bayern

Erst als die USA 1948 den DP-Act verabschiedeten und damit die Einreisebestimmungen lockerten, konnten zahlreiche Personen emigrieren. Nicht alle verließen Deutschland. Unter anderem in Frankfurt am Main und München siedelten sich viele ehemalige Bewohner der DP-Lager an. Lange Zeit lang hing ein Mantel des Schweigens über den Geschichten der DPs. Erst in den 1990er-Jahren setzte eine historische Beschäftigung mit dem Thema ein. Ein Treffen ehemaliger DPs in Waldram 2008 war die Initialzündung für die Ausstellung, so Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums, bei der Ausstellungseröffnung. Die museale Aufarbeitung dieses lange vergessenen Kapitels der deutschen Nachkriegsgeschichte hat indessen erst jetzt richtig begonnen.

Infos

Juden 45/90 Von da und dort - Überlebende aus Osteuropa
Kuratorinnen: Jutta Fleckenstein und Tamar Lewinsky unter Mitarbeit von Piritta Kleiner
Szenographie: chezweitz & roesapple, Berlin
Bis zum 17. Juni 2012 ist die Ausstellung "Juden 45/90 - Von da und dort - Überlebende aus Osteuropa" zu sehen. Das Jüdische Museum München am St.-Jakobs-Platz hat von Dienstag bis Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.


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