Eine BR Data-Recherche von Uli Köppen, Niels Ringler und Manuel Mohr

Doping für Fitness und Aussehen durch alle Altersschichten: Studien sprechen von bis zu 24% gedopten Männern in deutschen Fitness-Studios. Kann das sein? Die BR-Data-Recherche zeichnet ein eindeutiges Bild: Testosteron-Doping ist Massenphänomen und Teil eines körperfixierten Lifestyles geworden.

Unsere Ergebnisse zusammengefasst:

  • Der Anabolika- und Testosteron-Schwarzmarkt hat mittlerweile ungeheure Ausmaße angenommen: Das zeigen Zoll-Daten.
  • Fitness-Doper gehen ein hohes Risiko ein: Durch eine exklusive Laborauswertung haben wir erstmals Einblick in die Qualität der Schwarzmarkt-Ware bekommen und erschreckende Abweichungen in der Konzentration der Wirkstoffe festgestellt.
  • Auch außerhalb des Fitness-Studios boomt Testosteron: Ärzte und Pharmabranche haben das Hormon als Mittel gegen Männer-Müdigkeit und die sogenannte Andropause entdeckt. Eine neue Krankheit wird auf den Markt gebracht.

Lesezeit ca. 27 min

Der Schwarzmarkt

Ein boomendes Geschäft

Gewichte klirren sanft gegeneinander, wie auf einer Schiene schwebt die Hantelstange von der Hüfte bis zum Schlüsselbein. Dann die Bauchübung auf der Langbank. Der Ablauf ist Routine, Markus Böhmer trainiert seit Jahrzehnten. Auf Parkplätzen vor einem Fitness-Studio hat er seinen Stoff vertrieben: C19H28O2.

Testosteron wird vom Körper gebildet und ist eine Untergruppe der Anabolika. Es wirkt anabol, d.h. es fördert den Aufbau von Muskeln und körpereigenem Gewebe.

Über seine Wirkung auf trainierte wie untrainierte Männerkörper kann Böhmer stundenlang referieren, mit den Jahren hat er enzyklopädisches Wissen über Trainings- und Medikamentenpläne angesammelt. Zunächst aus eigener Erfahrung: Er hat selbst "eingefahren ohne Ende", wie er sagt. Und irgendwann hat er sein Fachwissen in Geld umgesetzt – in seinem eigenen Untergrundlabor. Er hat die Rohstoffe aus China bestellt, gemischt, in Öl aufgelöst und in Ampullen gefüllt in einem winzigen Raum, versteckt hinter der Garderobenwand seiner Wohnung.

"Ich habe wirklich einen extrem hohen Eigenbedarf gehabt."
Markus Böhmer
hat ein Untergrundlabor betrieben

Studien

kolibri-Studie Robert-Koch-Institut, Studie (2013) von Mischa Kläber, Studie von Perikles Simon e. al.

Sein Testosteron hat Abnehmer gefunden, die Muskeln aufbauen wollten. Möglichst schnell und möglichst viel – für das eigene Spiegelbild oder den nächsten Wettkampf. Die potentielle Käuferzahl ist groß: 9,5 Mio Deutsche haben einen Vertrag in einem Fitness-Studio unterschrieben. Studios werden neben dem Postversand als Umschlagplatz Nr. 1 für den Schwarzmarkt vermutet und gelten als Keimzellen für die Verteilung von Fachwissen und Stoff – da sind sich die Autoren mehrerer Studien einig.

Ermittlungsverfahren

Die Steigerung der Ermittlungsverfahren spricht sowohl von einem belebten Schwarzmarkt als auch von gesteigertem Ermittlungsdruck, wie wir in Hintergrundgesprächen erfahren haben.

Der Stoff fließt nach Deutschland über einen internationalen Schwarzmarkt, der immer größere Ausmaße annimmt. Wie stark, darauf deuten die Zahlen des deutschen Zollfahndungsdienstes hin. Die Doping-Ermittlungsverfahren sind von 2006 bis 2014 um mehr als das 40-Fache gestiegen.

Ermittlungsverfahren stark angestiegen

Verfahren Doping
Verfahren sonstige Arzneimittel

Ermittlungsverfahren des deutschen Zollfahndungsdienstes, 2006 bis 2014

Quelle: Zoll | Daten

Entwicklung der Ermittlungsverfahren zu Arzneimittel und Doping beim Zollfahndungsamt Frankfurt | Daten

Ein Hot-Spot im Anabolika-Umschlag ist Frankfurt mit seinem Flughafen und dem internationalen Postzentrum. Der Anteil der Anabolika-Verfahren an den Verfahren gegen das Arzneimittelverbot beträgt in Frankfurt mittlerweile 91%. Beim Frankfurter Zoll finden Beamte fast täglich Anabolika und Testosteron, die für Untergrundlabore oder private Abnehmer bestimmt sind. Hier werden immer wieder Großfunde sichergestellt, wie etwa 2010:

Bis dato die weltgrößte Sicherstellung an Dopingmitteln: 14.455 Liter und 50 kg Wirkstoff

Hans-Jürgen Schmidt, Sprecher Zollfahndungsamt Frankfurt

Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann niemand sagen. Aus eigener Erfahrung berichtet Markus Böhmer: "Die finden absolut sicher nur einen Bruchteil. Der Zoll läuft hinterher so wie der Dopingfahnder dem Sportler." Und es ist ein lohnendes Geschäft: Der Gewinn für Untergrundlabore, die die Rohstoffe einkaufen und das Testosteron portionsweise verkaufen, liegt beim 40-Fachen der Herstellungskosten wie eine Beispielrechnung des Frankfurter Zolls zeigt:

schwarzmarkt-kosten-nutzen

Die Laborauswertung

Hohes Risiko für Schwarzmarktkäufer

Schnelle Muskelmasse, möglichst billig: Das ist laut unserer Analyse die Devise beim Gros der Schwarzmarktkunden. Wir haben durch eine für uns exklusiv erstellte Labor-Auswertung von beschlagnahmten Dopingmitteln des Dopinglabors Kreischa erstmals Einblick in die Qualität der Testosteron- und Anabolika-Schwarzmarktware bekommen.

Ausgewertet wurden rund 10.000 Asservate, die zwischen 2011 und 2015 vor allem von der Staatsanwaltschaft München I an das Institut für Dopinganalytik und Sportbiochemie (IDAS) in Kreischa zur Analyse eingesandt wurden, u.a. nach Wirkstoff, Menge, Abweichung in Volumen und Konzentration.

Die schnelle Wirkung ist für die meisten User der Schwerpunkt, auf den sie ihre Kur ausrichten – ungeachtet der Nebenwirkungen. Denn die sind teilweise drastisch und ebenfalls seit Jahrzehnten bekannt. Die beliebtesten Präparate, die über den Schwarzmarkt kursieren, haben sich laut unserer Analyse seit Jahren nicht verändert, Exoten oder neu entwickelte Stoffe werden kaum entdeckt.

Begriff aus dem Bodybuilding: Anabolika- und Testosteron-Doper bezeichnen ihren meist akribisch zusammengestellten Medikamenten- und Drogenplan als "Kur".

"Die meisten Nutzer nehmen das, was sie schon seit Jahren kennen und was auch einfach billiger ist."
Detlef Thieme
Leiter des Dopinglabors Kreischa

Labordaten

Diese Daten aus Kreischa bilden nur den Teil der Schwarzmarktware ab, der ins Labor zur Analyse geschickt wird. Um zu sehen, ob diese Daten der Realität entsprechen, haben wir exemplarisch die Funde des Zollfahndungsamts München analysiert – sie ergeben ein ähnliches Bild.

Dieses Festhalten an bekannten Mitteln spiegelt sich in den Top Ten der Wirkstoffe wider, die zur Analyse ins Labor geschickt werden. Die meisten der Wirkstoffe in der Laborliste sind seit Jahrzehnten auf dem Markt – wenn auch teilweise nicht mehr auf dem legalen wegen starker Nebenwirkungen. Deshalb werden vor allem zwei Gruppen an Wirkstoffen gefunden: Zum einen Testosteron und andere Anabolika, die zum Muskelaufbau und zum anschließenden Definieren der Muskelmasse dienen. Die zweite Gruppe sind die Nebenwirkungsbekämpfer.

Muskeln aufbauen, Nebenwirkungen bekämpfen

Testosteron
andere anabole Steroide
Nebenwirkungsbekämpfer

Top 10 der meistgefundenen Wirkstoffe

Quelle: Institut für Dopinganalytik und Sportbiochemie (IDAS) Kreischa | Daten

Nebenwirkungen sind einkalkuliert

Nebenwirkungen nehmen viele Schwarzmarktkunden von Anfang an in Kauf. Nur so kann man erklären, dass Metandienon immer noch das dritthäufigste Mittel auf der Laborliste ist – und das, obwohl es vor über 30 Jahren wegen seiner starken Nebenwirkungen vom deutschen Markt genommen wurde. Wer es nimmt, muss mit Leberschäden und bei Männern mit weiblicher Brustbildung rechnen. Bei Usern ist es beliebt, weil man es sowohl spritzen als auch schlucken kann, es extrem billig ist und kein anderes Mittel so schnell Muskeln aufbaut.

Weibliche Brustbildung bei Männern oder Gynäkomastie: Sie kann Folge einer Anabolika- und Testosteronkur sein, denn Testosteron wird im männlichen Körper zu Östrogen umgewandelt. Brustdrüsen reagieren sensibel auf solche Hormonschwankungen und können dadurch zum Wachsen angeregt werden.

"Das war die Zeit, in der sich die Spätfolgen entwickelt haben und mir ein weiblicher Busen gewachsen ist."
Jörg Börjesson
ehemaliger Doper

Um solche Dopingfolgen zu verhindern, greifen viele User zu sogenannten Nebenwirkungsbekämpfern. Diese Mittel gegen die Mittel gehören für viele User selbstverständlich zu einer Anabolika- und Testosteronkur – das zeigt unsere Analyse: Clomifen und Tamoxifen, beides Antiöstrogene, sind unter den Top Ten der Laborliste. Sie sollen diese weibliche Brustbildung bei Männern verhindern. Antiöstrogene und Potenzmittel sind die meist gefundenen Präparate gegen Nebenwirkungen.

Neben den einkalkulierten Nebenwirkungen gibt es eine Menge Langzeitfolgen, die bei einem Doper auftreten und an einem anderen spurlos vorbeigehen können. Detlef Thieme betrachtet vor allem die oft praktizierte jahrelange Überdosierung als problematisch. Sein Kollege Andreas Büttner, Leiter der Rechtsmedizin Rostock, kennt die Langzeitfolgen aus eigenem Augenschein, denn er hatte schon einige ehemalige Testosteron- und Anabolika-Doper auf dem Seziertisch:

"Wenn Sie etwas nehmen, obwohl Sie völlig gesund sind, werden die Nebenwirkungen überwiegen."
Andreas Büttner
Leiter der Rechtsmedizin Rostock

Hohe Fälschungsquote auf dem Schwarzmarkt

In zahlreichen Foren im Netz wird diskutiert, wie man sich vor gefälschten Präparaten schützen kann. Etwa das so genannte Schwarzbuch – die Bibel der Bodybuilder- und Fitness-Doper – warnt ausführlich vor Fälschungen und zeigt, wie man sie am Aussehen erkennt:

Lorem ipsum Screenshot aus dem Schwarzbuch, einer Anleitung von Fitnessdopern für Doper

Unsere Analyse zeigt jedoch, dass sich Schwarzmarktkunden kaum davor schützen können. Denn die Konzentration, die auf den Packungen angegeben ist, wird bei fast der Hälfte der analysierten Präparate nicht eingehalten – die Fälschungsquote liegt bei fast 50%, das zeigt unsere Laborauswertung:

Gefährliche Schwankungen

39%
10%
51%
zu wenig
zu viel
ok

Wirkstoff-Konzentration der analysierten Mittel

Quelle: Institut für Dopinganalytik und Sportbiochemie (IDAS) Kreischa

Bei 10% der Präparate konnten wir eine zu hohe Konzentration feststellen: mindestens ein Zehntel mehr als die angegebene Dosis. Bedenklich ist, dass Präparate wie Metandienon oder das Asthmamittel Clenbuterol mit starken Nebenwirkungen darunter sind. Oft ist das eine Geschäftstaktik der Untergrundlabore, um sich mit besonders wirksamen Mitteln am Markt bekannt zu machen:

Bei Clenbuterol entdeckte das Labor bei manchen Präparaten eine 400-fach höhere Konzentration als angegeben. Der User kann in diesem Fall von akuten Nebenwirkungen, wie Muskelzucken, erhöhter Körpertemperatur und Kopfschmerzen ausgehen. Clenbuterol ist ein Asthmamittel, dem anabole Wirkung zugesagt wird.

"Du verkaufst das, was hunderprozentig hinhaut. Das bringt mir Geld, bringt mir Kundenzufriedenheit."
Markus Böhmer
hat ein Untergrundlabor betrieben

Allerdings kommt auch häufig eine zu geringe Dosierung vor – ebenfalls eine Geschäftstaktik bereits etablierter U-Labore, die am Wirkstoff sparen wollen. In rund 40% der Präparate wurde bei der Analyse zu wenig Wirkstoff festgestellt: weniger als 75% der angegebenen Dosis – auch das kann riskant werden. Denn wenn sich die erhoffte Wirkung nicht einstellt, dosieren viele User nach, was laut Detlef Thieme zwei Gefahren birgt: "Die Injektionsrisiken steigen, denn oft sind die Mittel verunreinigt und die User bekommen einen Spritzenabszess. Und natürlich steigt damit die Gefahr einer Überdosierung."

Hinzu kommt: Wenn User bei den Nebenwirkungskillern an zu gering dosierte Fälschungen geraten, lassen sich auch Ödeme oder weibliche Brustbildung nicht so konsequent vermeiden wie gedacht. Die Wissenschaftlichkeit, mit der Kuren in der Szene zusammengestellt werden, erweist sich also in jeder Hinsicht als Farce. Denn User können anhand der Etiketten nicht einschätzen, welche Konzentrationen sie pro Präparat erhalten und auch die genau ausgeklügelten Wirkstoff-Kombinationen nicht aufeinander aufbauen.

Testosteron auf Rezept

Eine neue Krankheit wird erfunden

Abseits vom Schwarzmarkt übt Testosteron seit einiger Zeit Faszination auf eine ganz andere Alters- und Konsumentengruppe aus: Männer zwischen 40 und 65. Ärzte und Pharmabranche haben das passende Krankheitsbild zur Testosteronkur auf Rezept entdeckt: die Andropause – die Wechseljahre des Mannes, die durch Testosterongaben überwunden werden sollen.

Wir machen einen Selbstversuch:

Daneben gibt es unstrittig behandlungsbedürftige Absenkungen des Testosteronspiegels bei Männern, z.B. Hypogonadismus. Dieser Testosteronmangel kann verschiedene Ursachen haben, wie Erbkrankheiten, Hodenverletzungen oder -tumore.

Der Arzt zeigt auf seinen Bauch und sagt, dass er selber seit Jahren morgens Testosteron-Gel auf seinen Bauch schmiert und DHEA zu sich nimmt. Er hält zwei Präparate hoch, die anscheinend immer auf seinem Schreibtisch stehen und zeigt sie mir.

BR-Reporter Johannes von Creytz, Gedächtnisprotokoll des Selbstversuchs

DHEA ist ein Steroidhormon, die Vorstufe der männlichen und weiblichen Sexualhormone. Die Anti-Aging-Medizin schreibt ihm zu, vor Krebs und Infektionen zu schützen. Auf der Seite des großen Münchner Hormonzentrums, in dem unser Reporter in der Sprechstunde sitzt, wird es als "Jungbrunnenhormon" bezeichnet.

Günter Stalla, Endokrinologe und Professor am Max-Planck-Institut, hält das für Geschäftemacherei: "Da will man halt DHEA verkaufen. Ein erniedrigter Wert würde einen Nebennierentumor vermuten lassen, aber das hat hiermit nichts zu tun."

In dem großen Münchner Hormonzentrum, dem Ort unserer Recherche, bekommt man Testosteron auf Rezept – auch der BR-Reporter Johannes von Creytz, der sich für unsere Recherche in Behandlung begibt. Er nennt unspezifische Symptome: Er fühle sich nicht mehr fit und antriebsschwach. Für die Anti-Aging-Medizin reicht das, um nach Testosteron-Mangel zu suchen. Low-T heißt die vermutete Diagnose, auf die der Arzt sofort einsteigt. Es ist geradezu ein Verkaufsgespräch, in das von Creytz verwickelt wird:

Der Arzt sagt, dass das Testosteron in Sekundenschnelle im Blut sei und man den Tag wesentlich fitter gestalten könne und dafür in der Nacht besser schlafe. Bei der Therapie gehe es darum, den Peak am Morgen und den Verlauf wie bei einem jüngeren Menschen wieder herzustellen.

Reporter Johannes von Creytz, Gedächtnisprotokoll

Ein Bluttest wird verabredet, der Testosteronspiegel und Tumormarker messen soll und dann 789,81€ kosten wird. Dazu kommt ein anschließendes Beratungsgespräch, dann steht der Reporter als frisch gebackener Low-T-Patient vor der Praxis, in der Hand ein Rezept über Testosteron-Gel. Gemessen wurden bei dem Test insgesamt 27 Werte – eine Menge, die der Endokrinologe Günter Stalla vom Max-Planck-Institut für unsinnig hält: "Man braucht nur den Testosteron-Wert, alles andere ist Geschäftemacherei."

Während die Verschreibungen von weiblichen Sexualhormonen kontinuierlich wegen Gesundheitswarnungen abnehmen, steigen die Testosteronverschreibungen und der Umsatz über den Apothekentresen seit Jahren stark an.

Der Arzneiverordnungs-Report befasst sich jährlich mit der Verschreibung von Arzneimitteln und beschreibt die Entwicklung bis zum Jahr 2015 als stark gegenläufig:

"Die Verordnung der Östrogenpräparate zur Hormonersatztherapie in der Postmenopause sind seit 1999 um 77% zurückgegangen. Nach langjähriger Konstanz zeigen auch die hormonalen Kontrazeptiva (Verhütungsmittel, Anm. d. Redaktion) seit 2003 eine kontinuierliche Verordnungsabnahme um 21%. Im Gegensatz dazu haben die Testosteronverordnungen seit 10 Jahren dreifach zugenommen."

Testosteronverkäufe

Die Daten zeigen die Apothekenabgaben zum Apothekenverkaufspreis. Datenbasis sind die GKV-Abrechnungen der Apothekenrechenzentren. Die Privatrezepte und Abgaben ohne Rezept werden über eine Stichprobe von mehr als 4.000 Apotheken erhoben.

Vergangenes Jahr verkauften Apotheken in Deutschland über 500.000 Packungen verschiedener Testosteronpräparate und damit 55% mehr als im Jahr 2007. Etwas mehr als die Hälfte davon bezahlten die gesetzlichen Krankenkassen. Insgesamt erzielten Testosteronpräparate 2015 einen Umsatz von fast 60 Millionen Euro – fast doppelt so viel wie im Jahr 2007.

Testosteronverschreibungen steigen stark an

Gesetzl. Krankenversicherungen
Privat

Testosteronverkäufe von Apotheken in Deutschland von 2007 bis 2015

Quelle: ims health, Daten zu Kassen- und Privatrezepten & Wissenschaftl. Institut der AOK (WIdO)| Daten

Die Krankheitserfinder

Disease mongering – Krankheitserfindung heißt der Fachbegriff. Pharmafirmen beauftragen dafür Marketingagenturen. Die Branche hat seit Jahren den wachsenden Markt erkannt und setzt viele Hebel in Bewegung, um Testosteronmangel als Krankheitsbild zu etablieren und die Hormonersatztherapie positiv darzustellen. Eine Metastudie hat herausgefunden, dass die pharmafinanzierten Studien das Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko geringer einschätzen als nicht pharmafinanzierte Studien.

Jan Salzmann von Mezis, der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte, setzt sich schon länger kritisch mit der Vermarktungspraxis des Pharmariesen Bayer auseinander, der mit seiner Tochterfirma Jenapharm zahlreiche Testosteron-Präparate anbietet.

"Ein neues Krankheitsbild wird geschaffen."
Jan Salzmann
von Mezis, der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte
Jan Salzmannvon Mezis, der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte

Auf den Vorwurf, neue Krankheiten für Medikamente zu entwickeln, heißt es in einer Stellungnahme von Jenapharm:

Alle (unsere) Aussagen beziehen sich auf das von medizinischen Fachkreisen anerkannte Krankheitsbild des männlichen Hypogonadismus und auf die zugelassene Indikation unserer Testosteronpräparate, wie sie in den jeweiligen Produktinformationen angegeben ist.

Jenapharm

Allerdings nennt die PR-Agentur Cramer-Gesundheits-Consulting auf ihrer Homepage die Bayer-Tochter Jenapharm als Referenz für die "Themenkampagne Hormontief des Mannes" – und beschreibt ihre Methode so:

Das Hormontief des Mannes – Mit PR eine neue Indikation begründet
[...] Durch intensive Medienarbeit über drei Jahre wird eine awareness für das Thema geschaffen und der Begriff Hormontief des Mannes geprägt. Das Hormontief wird als ernstzunehmende behandlungsbedürftige Erkrankung dargestellt und der Urologe als Spezialist für das Krankheitsbild positioniert.

Homepage der Agentur CGC

Ein Krankheitsbild, auf das die Anti-Aging-Medizin dankbar eingegangen ist.

"Eine Reihe von Anti-Aging-Praxen haben ein System, was den Patienten häufig Tausende von Euro kostet."
Martin Reincke
Chef der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
Martin Reincke, Chef der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie

Ein Blick auf die meist verschriebenen Testosteron-Präparate zeigt, dass das Pharma-Marketing funktioniert. Besonders auffällig ist der Siegeszug eines bestimmten Mittels: Nebido wurde in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 300% mehr verschrieben – ein Präparat der Bayer-Tochter Jenapharm.

Nebido ist eines der am längsten wirksamen Testosterone, die auf dem legalen Markt sind. Es wird in den Muskel injiziert und eine Gabe soll bis zu drei Monaten wirksam sein.

Top 5

Die Grafik zeigt die Verordnungen der gesetzl. Kassen, aufgeschlüsselt nach den meist verschriebenen Testosteronpräparaten

Unter den Top Ten der meist verschriebenen Testosteron-Präparate sind zudem die Gele Androtop, Testim und Testogel, zu denen so genannte Anwendungsbeobachtungen laufen, bei denen Ärzte Geld von Pharmafirmen bekommen, wenn sie das Medikament verschreiben und einen Fallbericht oder eine Dokumentation über den Fall abliefern. Anwendungsbeobachtungen sind seit einiger Zeit in Verruf geraten als Marketinginstrument der Pharmaindustrie, um Mittel am Markt einzuführen oder zu etablieren.

Correctiv hat im März 2016 eine Recherche dazu veröffentlicht inklusive Datenbank. Hier geht’s zur Abfrage zu Antrotop, Testim und Testogel.

Siegeszug von Nebido

Nebido
Androtop Gel
Testogel
Testosteron JENAPHARM
Testosteron-Depot GALEN

Top 5 der gesetzlich verschriebenen Testosteronpräparate von 2005 bis 2014

Quelle: Wissenschaftl. Institut der AOK (WIdO) | Daten

Studienlage ist unsicher

Während die einen Studien den Nutzen von Testosteronsubstitution preisen und Warnungen vor Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs als überholt darstellen, sprechen andere nach wie vor Gesundheitswarnungen aus oder halten diese Ersatztherapie mit Testosteron zumindest für nutzlos. Die Ergebnisse widersprechen sich und viele Endokrinologen wünschen sich für die Behandlung mit Testosteron mehr zuverlässige, nicht Lobby-getriebene Forschung.

Wir brauchen die Ergebnisse großer Studien, sonst ist das alles Kaffeesatzleserei und bis dahin gilt: Wir wissen es nicht, also unterlässt man es.

Martin Reincke, Chef der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie

Von der unsicheren Studienlage und der Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen erfährt Johannes von Creytz wenig bei seinem Beratungsgespräch. Der Arzt sagt:

Hormone seien ohne Grund in Verruf gebracht worden. Hormone würden weder dick machen, noch Krebs auslösen. Testosteron sei nicht ein Stoff, der Prostata-Krebs auslöst. Die Yellow Press würde das nur immer schreiben, obwohl die Fachgesellschaften mittlerweile zurückrudern bei solchen Aussagen, nur das sei schwer in der Presse unterzukriegen.

Reporter Johannes von Creytz, Gedächtnisprotokoll

Solche Arzt-Bekenntnisse zusammen mit den nach oben schießenden Verschreibungs- und Verkaufszahlen sprechen für ein klares Ergebnis: Die Hemmung, Testosteron zu verschreiben und zu konsumieren ist in den vergangenen Jahren stark gesunken. Alle Hinweise sprechen dafür, dass sich dieser Trend weiter ausbreiten wird, zumindest bis aussagekräftige Studien vorliegen. Mit unabsehbaren Folgen für das Gesundheitssystem – ganz abgesehen von den Kosten, die die langfristigen Nebenwirkungen verursachen.

"Kein Konsum bleibt ohne Nebenwirkungen."
Martin Hörning
Professor für Sozialmedizin an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen