Telekolleg - Deutsch


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Die Diskussion Übung

Stand: 19.11.2012 | Archiv

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Frage

Viele deutsche Dichter und Denker haben die Engländer wegen ihrer alteingesessenen parlamentarischen Diskussionskultur beneidet. Sie konnten in deutschen Landen nur träumen von dem trockenen Humor, der Fairness, der Phantasie und dem freien beweglichen Geist, der die politischen Debatten auf der Insel zu einem heiteren Schauspiel machten. Ein berühmter deutschsprachiger Dichter des 19. Jahrhunderts verband seine unumwundene Bewunderung dieser Diskussionskultur indes mit der schärfsten Kritik an der politischen Praxis der Engländer, der Unterdrückung der irischen Katholiken.

Wer war es?

Tipp: Besagter Dichter wusste aus eigener Erfahrung, was es heißt, zu einer Minderheit zu gehören, die hart für ihre Emanzipation kämpfen musste.

Antwort

Gemeint ist Heinrich Heine, am 13.12.1797 in Düsseldorf geboren, am 17.2.1856 in Paris gestorben. Unter den berühmten Reisebildern dieses großen Dichters und Satirikers befinden sich auch die 1828 erschienenen Englischen Fragmente. Im Fragment IX Emanzipation gibt Heine ein anschauliches Bild von der brillanten englischen Streitkultur, die indes ein brisantes politisches Problem nicht meistert: Die Durchsetzung der Emanzipation der irischen Katholiken.

Heinrich Heine. Englische Fragmente.

IX Die Emanzipation

Wenn man mit dem dümmsten Engländer über Politik spricht, so wird er doch immer etwas Vernünftiges zu sagen wissen. Sobald man aber das Gespräch auf Religion lenkt, wird der gescheiteste Engländer nichts als Dummheiten zutage fördern. Daher entsteht wohl jene Verwirrung der Begriffe, jene Mischung von Weisheit und Unsinn, sobald im Parlamente die Emanzipation der Katholiken zur Sprache kommt, eine Streitfrage, worin Politik und Religion kollidieren. Selten in ihren parlamentarischen Verhandlungen ist es den Engländern möglich ein Prinzip auszusprechen, sie diskutieren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge, und bringen Fakta, die einen pro, die anderen contra, zum Vorschein.

Mit Faktis aber kann man zwar streiten, doch nicht siegen, da gibt es nichts als ein materielles Hin- und Herschlagen, und das Schauspiel eines solchen Streites gemahnt uns an wohlbekannte Propatria-Kämpfe deutscher Studenten, deren Resultat darauf hinausläuft, daß soundsoviel Gänge gemacht worden, soundsoviel Quarten und Terzen gefallen sind, und nichts damit bewiesen worden.

Im Jahr 1827, wie sich von selbst versteht, haben wieder die Emanzipationisten gegen die Oranienmänner in Westminster gefochten, und wie sich von selbst versteht, es ist nichts dabei herausgekommen. Die besten Schläger der Emanzipationisten waren Burdett, Plunket, Brougham und Canning. Ihre Gegner, Herrn Peel ausgenommen, waren wieder die bekannten, oder besser gesagt, die unbekannten Fuchsjäger. [...]

Daß die große Masse des englischen Volkes gegen die Katholiken gestimmt ist, und täglich das Parlament bestürmt, ihnen nicht mehr Rechte einzuräumen, ist ganz in der Ordnung. Es liegt in der menschlichen Natur eine solche Unterdrückungssucht, und wenn wir auch, was jetzt beständig geschieht, über bürgerliche Ungleichheit klagen, so sind alsdann unsere Augen nach oben gerichtet, wir sehen nur diejenigen, die über uns stehen, und deren Vorrechte uns beleidigen; abwärts sehen wir nie bei solchen Klagen, es kommt uns nie in den Sinn, diejenigen, welche durch Gewohnheitsunrecht noch unter uns gestellt sind, zu uns heraufzuziehen, ja uns verdrießt es sogar, wenn diese ebenfalls in die Höhe streben, und wir schlagen ihnen auf die Köpfe. Der Kreole verlangt die Rechte des Europäers, spreizt sich aber gegen den Mulatten, und sprüht Zorn, wenn dieser sich ihm gleichstellen will. Ebenso handelt der Mulatte gegen den Mestizen und dieser wieder gegen den Neger. Der Frankfurter Spießbürger ärgert sich über Vorrechte des Adels; aber er ärgert sich noch mehr, wenn man ihm zumutet, seine Juden zu emanzipieren. Ich habe einen Freund in Polen, der für Freiheit und Gleichheit schwärmt, aber bis auf diese Stunde seine Bauern noch nicht aus ihrer Leibeigenschaft entlassen hat. [...]

Man verzeihe mir, daß ich in flippigem Tone eine Streitfrage behandle, von deren Lösung das Wohl Englands und daher vielleicht mittelbar das Wohl der Welt abhängt. Aber eben, je wichtiger ein Gegenstand ist, desto lustiger muß man ihn behandeln; das blutige Gemetzel der Schlachten, das schaurige Sichelwetzen des Todes wäre nicht zu ertragen, erklänge nicht dabei die betäubende türkische Musik mit ihren freudigen Pauken und Trompeten. Das wissen die Engländer, und daher bietet ihr Parlament auch ein heiteres Schauspiel des unbefangensten Witzes und der witzigsten Unbefangenheit, bei den ernsthaftesten Debatten, wo das Leben von Tausenden und das Heil ganzer Länder auf dem Spiel steht, kommt doch keiner von ihnen auf den Einfall ein deutsch steifes Landständegesicht zu schneiden, oder französisch pathetisch zu deklamieren, und wie ihr Leib, so gebärdet sich alsdann auch ihr Geist ganz zwanglos, Scherz, Selbstpersiflage, Sarkasmen, Gemüt und Weisheit, Malice und Güte, Logik und Verse sprudeln hervor im blühendsten Farbenspiel, so daß die Annalen des Parlaments uns noch nach Jahren die geistreichste Unterhaltung gewähren. Wie sehr kontrastieren dagegen die öden, ausgestopften, löschpapiernen Reden unserer süddeutschen Kammern, deren Langweiligkeit auch der geduldigste Zeitungsleser nicht zu überwinden vermag, ja deren Duft schon einen lebendigen Leser verscheuchen kann, so daß wir glauben müssen, jene Langweiligkeit sei geheime Absicht, um das große Publikum von der Lektüre jener Verhandlungen abzuschrecken, und sie dadurch trotz ihrer Öffentlichkeit, dennoch im Grunde ganz geheimzuhalten. Ist also die Art wie die Engländer im Parlamente die katholische Streitfrage abhandeln, wenig geeignet, ein Resultat hervorzubringen, so ist doch die Lektüre dieser Debatten um so interessanter, weil Fakta mehr ergötzen als Abstraktionen, und gar besonders amüsant ist es, wenn fabelgleich irgendeine Parallelgeschichte erzählt wird, die den gegenwärtigen, bestimmten Fall witzig persifliert, und dadurch vielleicht am glücklichsten illustriert. [...]

Literatur

Heinrich Heine. Reisebilder. München 1994 (2. Aufl.), Goldmann Verlag


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