Telekolleg - Deutsch


6

Nachgefragt Was ist Literatur?

Was Literatur eigentlich ist, wissen wohl diejenigen am besten, die Literatur „selbst machen“. Eine Auswahl an Zitaten von Dichtern und Schriftstellern soll das jeweilige Literaturverständnis aufzeigen.

Stand: 07.12.2012 | Archiv

Blick auf Büchertisch | Bild: picture-alliance/dpa

Pindar, der erste große griechische Dichter, sieht seine Aufgabe darin, große vorbildliche Taten seiner Landsleute zu loben und niedere, gemeine Taten zu tadeln. Dichtung stellt ins Licht und rühmt, was sonst vergessen und vergehen würde: Sie setzt den Taten ein Denkmal aus Worten und macht sie so "unsterblich".

Aufsteigt mannhafte Tat, schwingt, wie durch frische Tropfen des Taus ein Baum wächst Durch der Dichter Weisheit nach Verdienst zum feuchten Äther sich auf. Achte nemische Ode.

Friedrich Hölderlin, für den der Dichterberuf ebenfalls ein zentrales Anliegen seiner Dichtung selbst war, schrieb am 1. Januar 1799 an seinen Bruder, was "Poesie" soll und was sie einst bei den Griechen vermochte. Mit "Poesie" meint er hier Dichtung insgesamt: Epos, Lyrik und Drama.

Nicht, wie das Spiel, vereinige die Poesie die Menschen, sagt' ich; sie vereinigte sie nemlich, wenn sie ächt ist und ächt wirkt, mit all dem mannigfachen Laid und Glük und Streben und Hoffen und Fürchten, mit all ihren Meinungen und Fehlern, all ihren Tugenden und Ideen, mit allem Großen und Kleinen, das unter ihnen ist, immer mehr zu einem lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen, denn eben diß soll die Poesie selber seyn, und wie die Ursache, so die Wirkung. Brief an den Bruder vom 1.1.1799. STA 6.1 S.306.

Johann Wolfgang Goethe hat seit seiner Sturm-und-Drang-Zeit wohl keinen Dichter so verehrt wie Shakespeare. Was er mit 61 Jahren über den englischen Dichter und dessen Kunst schreibt, erhellt zugleich seine eigene Auffassung von Dichtung im höchsten Sinne:

Das Höchste wozu ein Mensch gelangen kann, ist das Bewusstsein eigner Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst, welches ihm Einleitung gibt, auch fremde Gemütsarten innig zu erkennen. Nun gibt es Menschen, die mit einer natürlichen Anlage hierzu geboren sind und solche durch Erfahrung zu praktischen Zwecken ausbilden. Hieraus entsteht die Fähigkeit, der Welt und den Geschäften im höheren Sinne etwas abzugewinnen. Mit jener Anlage nun wird auch der Dichter geboren, nur dass er sie nicht zu unmittelbaren irdischen Zwecken, sondern zu einem höheren, geistigen allgemeinen Zweck ausbildet. Nennen wir nun Shakespeare einen der größten Dichter, so gestehen wir zugleich, dass nicht leicht jemand die Welt so gewahrte wie er, dass nicht leicht jemand, der sein inneres Anschauen aussprach, den Leser in höherem Grade mit in das Bewusstsein der Welt versetzt. Sie wird uns völlig durchsichtig; wir finden uns auf einmal als Vertraute der Tugend und des Lasters, der Größe, der Kleinheit, der Verworfenheit, und dieses alles, ja noch mehr, durch die einfachsten Mittel. Shakespeare und kein Ende. J.W. Goethe. Sämtliche Werke. Zürich Bd.14 S.756

Noch heute lebt bei einigen zeitgenössischen Dichtern dieses real gewordene Dichtungsideal von Goethe, während – nicht umsonst – die absoluten Ansprüche eines Pindar oder Hölderlin an die Dichtung kaum mehr anzutreffen sind. Herrmann Kinder z.B. bekennt, das erreichen zu wollen, "was Lenz über Goethes Werther schrieb“:

"Da stehe, was wir nur 'dumpf geahndet'. Das in Sprache bringen, was andere auch lachen, traurig sein, mitleiden und wütend werden lässt – den ganzen Wust von falschem und richtigem Leben." In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.). Da schwimmen manchmal ein paar gute Sätze vorbei. S.114

Georg Trakl schlägt in seinen, oft im Rausch entstandenen großen Gedichten einen ganz anderen Ton an, den er in einem Aphorismus reflektiert:

"Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne." Aphorismus 2 in: Georg Trakl. Das dichterische Werk. München 1979 (5. Aufl.), S.255

Heinrich Böll verteidigte entschlossen die so genannte "Trümmerliteratur" der Nachkriegszeit. Und dies 1952, zu einer Zeit, als die Deutschen wieder nur noch nach vorn schauen und ihre Vergangenheit hinter sich lassen wollten. In diesem engagierten Text spricht sich Bölls Verständnis des Schriftstellers exemplarisch aus:

"Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen. Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein: man braucht nicht gerade Blindekuh zu spielen, es gibt rosarote, blaue, schwarze Brillen – sie färben die Wirklichkeit jeweils so, wie man sie gerade braucht. Rosarot wird gut bezahlt, es ist meistens sehr beliebt – [.... ], aber auch Schwarz ist hin und wieder beliebt, [....]. Aber wir wollen es so sehen, wie es ist, mit einem menschlichen Auge, das normalerweise nicht ganz trocken und nicht ganz naß ist, sondern feucht – und wir wollen daran erinnern, daß das lateinische Wort für Feuchtigkeit Humor ist [...]. Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert um verwaltet zu werden – und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen. Bekenntnis zur Trümmerliteratur. In: Heinrich Böll. Schriften. Köln/Berlin 1961 S.339f

Paul Celan lotet in seinen hermetischen Gedichten nach dem Holocaust den Abgrund des (Un-)Sagbaren aus:

Die Sprache schlägt nicht nur Brücken in die Welt, sondern auch in die Einsamkeit. Zitiert nach: http://members.tripod.de/zitatenschatz/sprache.htm

Max Frisch erblickt in ganz anderer Weise das Unsagbare als das eigentliche Zentrum des dichterisch Gemeinten:

"Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen." Max Frisch. Tagebuch 1946-1949. Frankfurt a.M. 1958, S.42

Friedrich Dürrenmatt: Die Literatur muss so leicht werden, dass sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.

Bertolt Brecht definiert die Kriterien für die Literatur des "sozialistischen Realismus":

Realistische Kunst ist kämpferische Kunst. Sie bekämpft falsche Anschauungen der Realität und Impulse, welche den realen Interessen der Menschheit widerstreiten. Sie ermöglicht richtige Anschauungen und stärkt produktive Impulse.
• Realistische Künstler betonen das Sinnenmäßige, "Irdische", im großen Sinn Typische (historisch Bedeutsame).
• Realistische Künstler betonen das Moment des Werdens und Vergehens. Sie denken in allen ihren Werken historisch.
• Realistische Künstler stellen die Widersprüche in den Menschen und ihren Verhältnissen zueinander dar und zeigen die Bedingungen, unter denen sie sich entwickeln [....].
• Die sozialistisch-realistischen Künstler behandeln die Realität vom Standpunkt der werktätigen Bevölkerung und der mit ihr verbündeten Intellektuellen, die für den Sozialismus sind.

B. Brecht. Über sozialistischen Realismus. Zitiert nach: Neuere DDR-Literatur. Paderborn 1975 S.41f.

Christa Wolf bekennt 1978 in einem Interview mit W.F. Schoeller, dass sie umso stärker und bewusster auf Utopie setzt, je verfestigter die Realität wird:

"Bestimmte Strukturen sind ganz fest geworden und ihre Veränderbarkeit kann man nicht voraussehen, soweit es überhaupt wünschenswert ist – das lasse ich offen. Jedenfalls sehe ich mich einer verfestigten Wirklichkeit gegenübergestellt, und ich sehe gerade im Schreiben eine Möglichkeit, Utopie überhaupt noch einzuführen, Elemente von Hoffnung, um dieses altmodische Wort ruhig zu gebrauchen. Daran halte ich sehr fest." "Ist dann Literatur nicht zu einer Art Asyl geworden?", bewegt sie sich dann nicht im Abseits öffentlicher Möglichkeiten?, fragt Schoeller nach. "Nein, so sehe ich das nicht. Vorübergehend kann die Öffentlichkeit darauf verzichten, von der Literatur Gebrauch zu machen. Dann ist die Literatur vielleicht eine Art von Tresor, in dem man etwas aufhebt, wovon man sich später wieder bedienen kann, wenn man will. Aber Literatur ist immer öffentlich, immer aktiv und in meinem Verständnis nie ein Rückzugsgebiet." Zitiert nach: Christa Wolf. Materialienbuch. Klaus Sauer (Hg.). Darmstadt 1979, S. 55ff.

Maxim Biller hält den größten Teil der deutschsprachigen Literatur für eine verkopfte "Konzeptliteratur" und fordert, dass die Schriftsteller – statt sich in Form- und Sprachspielchen zu ergehen – so gründlich recherchieren sollten wie Journalisten:

"Literatur ist nichts anderes als eine stetige, ewige Recherche des menschlichen Daseins, der Geschichte des Einzelnen, einer Gruppe, eines Volkes, ja der ganzen Menschheit." Zitiert nach einem Interview mit Josef Bielmeier in Alpha-Forum, einer Sendung auf BR-alpha im Jahr 1999.


6