BR Heimat


17

Johannes R. Becher Zum 125. Geburtstag

Was ist Dichtung? Was Wahrheit? - in dem autobiographischen Roman "Abschied" des in München geborenen Johannes R. Becher, der als DDR-Kulturminister Karriere machte. Als Gymnasiast war Becher in einen Doppelselbstmord verwickelt, den er überlebte. Henrike Leonhardt versucht sich dem Kriminalfall zu nähern.

Von: Henrike Leonhardt

Stand: 22.05.2016 | Archiv

Der Schriftsteller Johannes R. Becher gibt während einer Einladung des "Demokratischen Kulturbundes Deutschland" am 08.12.1950 eine Pressekonferenz in Frankfurt am Main. | Bild: picture-alliance/dpa / Vack

"Auferstanden aus Ruinen ..."

DDR-Nationalhymne - 1. Strophe

"Auferstanden aus Ruinen
und der Zukunft zugewandt,
laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
und wir zwingen sie vereint,
denn es muß uns doch gelingen,
daß die Sonne schön wie nie
über Deutschland scheint."

Er hat seine Vaterstadt München und die Münchner Boheme so zugeneigt bedichtet wie kaum ein anderer Münchner Schriftsteller. Hat aber auch die DDR-Nationalhymne verfasst, "Auferstanden aus Ruinen ...", und wurde DDR-Kultur-Minister in Zeiten des Kalten Krieges - darum wird die Erinnerung an Johannes R(obert) Becher nicht gerade gepflegt.

"Ein Opfer wollte ich bringen, für Großes sterben."

Tödliches Drama mit Schusswaffe

Auch ist sie getrübt durch ein tödliches Drama, das er als 19-Jähriger dichtender Gymnasiast im April 1910 inszenierte. In Kleistscher Manier wollte er seine Todesphantasien als Doppelselbstmord in die Tat umsetzen - schoss auf seine sieben Jahre ältere Geliebte, eine Zigarrenhändlerin mit Nebeneinnahmen, schoss dann auf sich. Fanny Fuß starb, Becher, schwerverletzt, überlebte. Der verschleiernden Darstellung des verhassten Vaters (Oberlandesgerichtspräsident) verdankte es der Sohn, dass er in psychiatrischer Behandlung einer Bestrafung entging. Später wird Becher von einer "Pubertätstragödie" sprechen, die festgestellte Unzurechnungsfähigkeit (nach § 51) abstreiten: "Ein Opfer wollte ich bringen, für Großes sterben."

Der Münchner Johannes R. Becher in der DDR

Wie kam es zu der Tragödie? Was ist Dichtung? Was Wahrheit?

Was geschah, hat Bechers gesamtes Werk beeinflusst, immer wieder hat er es aufgegriffen und - aus befremdlichen, oft verfremdenden und widersprüchlichen Blickwinkeln - literarisiert, so als Traum in seinem 1940 im Moskauer Exil abgeschlossenen Entwicklungsroman "Abschied". Wie kam es zu der Tragödie? Was ist Dichtung? Was Wahrheit? Henrike Leonhardt versucht, dem "Fall Becher" näherzukommen.

Ein Grab in Berlin-Mitte, neben Heinrich Mann

Die Gräber von Johannes R. Becher und Heinrich Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof

Den geplanten zweiten Teil von "Abschied – eine deutsche Tragödie", den Weg in die bessere Zukunft, hat Becher nicht abschließen können. Das Buch hätte von Hans Bechers/Hans Gastls Engagement in der USPD, im Reichstag, im Exil, in der DDR berichtet, vielleicht auch von Irrwegen, Verrat, Isolation, Poesieverlust und dem Heimweh nach München. Wo Becher sich damals, 1910, bei dem "einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord" die Verletzungen beigebracht hatte, deren Narben nun die rechtzeitige Röntgen-Erkennung seines tödlichen Krebsleidens verhinderten. Und die Vollendung des Werks. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte liegt Johannes R. Becher begraben.

Buchtipps:

Johannes R. Becher. Triumph und Verfall: Eine Biographie

  • Autor: Jens-Fietje Dwars
  • Taschenbuch: 256 Seiten
  • Verlag: Aufbau Taschenbuch; Auflage: 1 (1. August 2003)
  • ISBN-10: 374661953X
  • ISBN-13: 978-3746619538


Johannes R. Becher. Eine politische Biographie

  • Autor: Alexander Behrens
  • Gebundene Ausgabe: 355 Seiten
  • Verlag: Böhlau Köln (1. September 2003)
  • ISBN-10: 3412032034
  • ISBN-13: 978-3412032036


Abschied

  • Autor: Johannes R. Becher
  • Broschiert: 433 Seiten
  • Verlag: Aufbau Tb (1995)
  • ISBN-10: 3746610796
  • ISBN-13: 978-3746610795

Inhalt:
In der Silvesternacht 1899/1900 gelobt Hans Gastl, Spross eines Staatsanwalts aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen, dass alles anders werde. Angesichts des Anbruchs einer neuen Zeit nimmt er sich vor, zum "guten Menschen" zu reifen. Er will sich aus dem Trott der Zeit, dem allgemeinen "Dahindämmern" der Gesellschaft verabschieden und sich auch in einem Befreiungsschlag von der Übermacht des autoritären Vaters lösen, der das Bestehende fanatisch verteidigt. Gastl muss sich zwischen "Strammstehen" und "Standhaft bleiben" entscheiden. Das aber macht ihn verführbar; er verbündet sich gegen seinen besten Freund, Arbeitersohn Hartinger, was in brutaler Gewalt gegen den "Hungerleider" gipfelt. Seiner Großmutter, der stillen Verbündeten, stiehlt er Geld.

Wegen des Verdachts, Gastl habe ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen, zwingt ihn der Vater in die Obhut einer Internatsschule, wo er zum Untertanen dressiert werden soll. Nach gescheiterter Karriere als Schwimmer flüchtet er sich in die Bücher, um so viel Wissen wie möglich aufzusaugen. Einen Seelenverwandten findet er im "Jüdlein", einem progressiven Geist, der ihn mit den Ideen des Sozialismus bekannt macht. An den Besuchen und Kontakten in einem Künstlercafé wachsen Gastls poetische Versuche. Er verweigert entgegen allgemeiner Kriegseuphorie den Dienst an der Front und wird vom Vater verstoßen. "Sie werden Ihr Leben als Dichtung fortsetzen", prophezeit ihm der Dichter Sack.


17