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Die Schlange Die allegorische Schlange des Christentums

Stand: 06.09.2012 | Archiv

Gabun-Viper | Bild: picture-alliance/dpa

Die Aufgabe ist gestellt, aber wie ist sie zu lösen? Den nötigen Schlüssel zur Entzifferung des geistigen Sinns der Welt liefert die spirituelle Ausdeutung der beobachtbaren Eigenschaften, Verhaltensweisen und Eigentümlichkeiten, die Gott seiner Schöpfung als ewige Wahrheit eingeschrieben hat. So weit die Theorie. Wie das Verfahren in der Praxis funktioniert, zeigt am besten ein Blick in den unangefochtenen "Bestseller" spätantiker und mittelalterlicher Naturlehren. Wohl kaum ein anderes Buch hat das Natur- und damit auch das Schlangenbild des abendländischen Kulturkreises so nachhaltig geformt, wie der berühmte "Physiologus". Die um 200 nach Christus im hellenistischen Sprachraum entstandene und im Lauf der Zeit angereicherte Sammlung allegorisch aufbereiteter Berichte über Tiere, Pflanzen und Mineralien wurde im Mittelalter rasch in zahlreiche Volkssprachen übersetzt. Das Buch erreichte eine Breitenwirkung, die es mit der Bibel aufnehmen konnte und galt bis an die Schwelle der Neuzeit als maßgebliches "naturkundliches" Standardwerk, aus dem Prediger aber auch Maler, Dichter, Philosophen im Vertrauen auf seine "wissenschaftliche" Autorität schöpften.

Showroom des Schöpfers: Die gedeutete Natur

Entscheidend am Physiologus ist der Blick auf die Natur: Sie hat keinen Zweck in sich selbst, hat weder ein Eigenrecht noch einen Eigenraum. Die Natur ist in erster Linie Showroom des Schöpfers: eine zeichenhafte Selbstoffenbarung Gottes, die seine Allmacht, seine Fürsorge, aber auch seinen Zorn, seinen Herrschaftswillen und seine Sanktionsgewalt zu erkennen gibt. Naturbetrachtung ist bis zum endgültigen Durchbruch des streng "wissenschaftlichen" Denkens der Moderne immer Theologie auf der Spur Gottes. Die Natur wird also nicht um ihrer selbst willen betrachtet, sondern allegorisch ausgeschlachtet, gleichsam buchstäblich ausgeweidet und transzendiert. Was immer die Dinge und Lebewesen an Eigenschaften aufweisen, ist daher letztlich kein natürliches Verhalten, sondern ein von Gott geschaffenes Demonstrationsobjekt mit spiritueller Zeigefunktion.

Das Schlangenproblem des Matthäusevangeliums

Das methodische Vorgehen des Physiologus folgt einem gleichbleibenden Muster. Am Beginn steht jeweils ein knapper Bericht über tatsächliche oder fiktive Eigenschaften eines Tieres, einer Pflanze oder eines Gegenstandes. Anschließend legt der "Naturkundige", nichts anderes heißt Physiologus auf Deutsch, diese Beobachtungen allegorisch aus.

Mit der Schlange gibt es dabei allerdings ein kleines Problem. Sie ist das Werkzeug des Satans, der die Menschheit zur Sünde verleitete und noch immer verleitet. Aber wie passt das zum Ratschlag Jesu, der die Jünger aussendet und dazu anhält, klug zu sein wie die Schlangen? Der Physiologus löst den quälenden Widerspruch durch einen geschickten Trick: Es gibt zwei Schlangenkapitel. Eines beschäftigt sich mit der Auslegung der "klugen" Schlange des Jesuswortes, ein zweites, "Über die Viper" betitelt, deutet die dämonische Schlange des Sündenfalls.

Seid klug wie die Schlangen

Sehen wir uns zuerst den bei Matthäus (Matth. 10,16) überlieferten Rat Jesu an, klug zu sein wie die Schlangen. Weil Jesus nicht irren kann, deutet der Physiologus insgesamt vier "natürliche" Eigenarten der Schlange als Aufforderung zum Widerstand gegen Sünde und Glaubensstärke aus. Zu den naturhaften Zeichen, die uns Gott in der "klugen" Schlange hinterlassen hat, gehört unter anderem auch das Phänomen der Häutung.

"Wenn die Schlange alt wird, lässt die Kraft ihrer Augen nach, und sie sieht schlecht. Und wenn sie sich verjüngen will, lebt sie asketisch und fastet vierzig Tage und vierzig Nächte, bis ihre Haut faltig wird. Und sie sucht einen Felsen mit einer engen Spalte. Dort kriecht sie hinein und reibt ihren Leib. So wirft sie die alte Haut ab und wird wieder jung. Deutung: Auf diese Weise sollst auch du, o Mensch, wenn du das Greisenalter des Kosmos ablegen willst durch den engen und mühsamen Weg, nämlich durch Fasten, deinen Körper zum Schwinden bringen, denn die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum ewigen Leben führt"

Physiologus

In einem zweiten Schritt fordert uns das Naturbeispiel der klugen Schlange zum Vertrauen in Christus auf:

"Wenn ein Mensch die Schlange angreift und töten will, gibt sie den ganzen Körper dem Tode preis, ihren Kopf aber schützt sie allein. Deutung: So sollst auch du, Mensch, wenn dich einer um Christi willen bedrückt, deinen Kopf schützen, in dem du das Vertrauen auf Christus unbefleckt erhältst, damit du vor Christus klug erscheinst wie die Schlange. Und wie kann der Herr die Schlange klug nennen, die er doch verflucht hat? So höre! Die Verfluchung geht gegen den Sündenfall und den Teufel und die Schlange, aber der Herr lobt sie nicht wegen ihrer Schlechtigkeit, sondern weil sie Ihren Kopf schützt. Deswegen sprich: seid klug wie die Schlangen, das heißt, sei klug wie die Schlange, und nimm deinen Kopf in acht, das ist das Vertrauen auf Christus"

Physiologus


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