Bayern 2 - radioWissen


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Wie Hören unser Leben prägt

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Susanne Nessler

Stand: 03.04.2017 | Archiv

Männliches Ohr | Bild: colourbox.com
Mensch, Natur und UmweltMS, RS, Gy

Wir leben in einem Universum von Geräuschen, Klängen, Tönen. Doch wie nehmen wir dieses akustische Tohuwabohu wahr? Warum und wozu hören wir überhaupt? Und wie wird aus bloßem Schall ein gedeutetes Abbild der Welt im Kopf?

Was ist das? Was knackt da im Gebüsch, was raschelt im Gras? Zu sehen ist nichts. Aber viel zu hören. In Bruchteilen einer Sekunde erfassen die Ohren eine Flut akustischer Informationen: Lautstärke, Tonhöhe, Entfernung, Dynamik, Ursprungs- und Bewegungsrichtung. Woher kommt das Geräusch, entfernt es sich, rückt es näher? Wie schnell, wie langsam bewegt es sich? Ist es ein Gleiten, Schleichen, Treten oder Trampeln? Sind es benennbare Laute oder unbekannte? Schon mit dem Anspringen des Gehörs wertet das Gehirn die Daten aus. Es analysiert und interpretiert die Schallmuster, gleicht sie mit gespeicherten Ereignissen ab, registriert Abweichungen, stellt Verknüpfungen her, deutet und entwirft angemessene Handlungsoptionen: Alarm oder Entspannung, fliehen, ausweichen, abwarten.

Weltempfänger im Dauerbetrieb

Die Ohren sind unsere feinsten, leistungsfähigsten und auflösungsstärksten Rezeptoren, pausenlos im Einsatz, daueraktiv, rascher und weiter ausgreifend als unsere übrigen Sinne. Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn sind auf die Naherfassung beschränkt, schlechte Sicht- und Lichtverhältnisse oder perspektivische Phänomene verwirren die Augen. Anders die Ohren: Sie hören auch um die Ecke, durchdringen die Dunkelheit, reichen weiter hinaus in die Welt und tiefer hinein in unsere Existenz, sind früher tätig als das restliche Sensorium. Noch bevor die anderen Sinne reifen, ist das Gehör als primäres Sinnesorgan schon vollständig ausgebildet. Ab dem fünften Schwangerschaftsmonat nehmen Babys im Mutterleib bereits Geräusche war, erkennen die Stimme der Mutter, filtern emotionale Botschaften aus.

Beute machen statt Beute werden

Nicht nur in der individuellen, auch in der menschlichen Entwicklungsgeschichte insgesamt haben die Ohren eine vorrangige Bedeutung. Sie schützten uns in der Frühzeit als hoch sensibles Frühwarnsystem vor Fressfeinden und Gefahren, sie halfen uns als äußerst präzises Lauschwerkzeug beim Pirschen und Jagen. Und sie schufen das Fundament für unser kostbarstes Gut überhaupt: Die Ausbildung der Sprache als komplexes Instrument der Welt- und Wissensaneignung. Was immer den Geist entstehen ließ, ohne Ohren hätte weder die intellektuelle noch die spirituelle Evolution des Menschen stattgefunden.

Das Wunderwerk Ohr

Die Mechanik dieses unverzichtbaren, vielseitigen Leitsinns ist gut erforscht. Einfach ausgedrückt sind die Ohren zunächst ein biologisches System, das mechanische Schwingungen eines elastischen Mediums wie der Luft, des Wassers oder auch fester Körper aufnimmt und über eine Reihe von Vermittlungsstellen dem Gehirn zuleitet. Das sichtbare, erste Element dieser Übertragungskette sind die Ohrmuscheln. Sie fangen Schallwellen wie ein Trichter auf und führen sie gebündelt in den Gehörgang ein. Am Ende des nur wenige Zentimeter langen Kanals erreicht der Schall das Trommelfell, eine hauchdünne Membran, die nun ihrerseits zu schwingen beginnt. Dahinter sitzen die aus Hammer, Amboss und Steigbügel gefügten Gehörknöchelchen. Sie nehmen das Bewegungsmuster auf und wirken aufgrund ihrer hebelartigen Verschränkung wie ein Verstärker, der die um das Zwanzig- bis Dreißigfache intensivierten Schallwellen auf die Hörschnecke überträgt. Die etwa erbsengroße, spiralig gewundene Knochenkapsel ist mit Flüssigkeit gefüllt, in der sich die übermittelten Druckschwankungen elastisch ausbreiten können. Hier, im eigentlichen Hörorgan, setzen an die 30.000 haarfeine Sinneszellen die analogen Reize schließlich in bioelektrische Signale um.

Die neuronale Transformation

Diese Umwandlung ist der entscheidende Schritt. Bis hierher diente der Hörapparat lediglich zur Aufnahme und Weiterleitung mechanischer Schwingungen. Erst in der Hörschnecke werden aus bloßen Druckschwankungen neuronale Impulse, die das Gehirn in spezialisierten Regionen auswerten und verarbeiten kann. Was an den Kontaktstellen zwischen den Haarzellen des Innenohrs und den Strängen des Hörnervs genau passiert, ist bislang nur in Grundzügen erforscht. Erste Hypothesen deuten jedoch darauf hin, dass die angeregten Haarzellen den Botenstoff Glutamat ausschütten und so den Hörnerv dazu anregen, ein elektrisches Signal zum Gehirn zu schicken.

Das Hirn hört "elektrisch"

In den spezialisierten Arealen des Großhirns geschieht das eigentliche Wunder des Hörens: Durch das gedankenschnelle Zusammenspiel zweier perfekt aufeinander abgestimmter Hochleistungssysteme verwandeln sich dinghafte, akustische Daten in inhaltliche Botschaften, in Sinn und Bedeutung. Die Ohren liefern den Werkstoff, das Rohmaterial. Aber wirklich hören, Geschwindigkeiten und Richtungen analysieren, Rückschlüsse ziehen, zuordnen und vernetzen, Sprache erkennen und produzieren, Emotionen und Absichten erfassen, das Gehörte benennen und die akustische Welt verstehen, kann nur das Gehirn. Wie dieses alltägliche Wunder zustande kommt, entzieht sich (noch) unserer Kenntnis. Doch je tiefer wir hinein lauschen in den Kosmos des Hörens, desto tiefer wird das Staunen über die hörend erfahrene und hörend gedeutete Welt.


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