Bayern 2 - radioWissen


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Die Geschichte des Landlebens in Deutschland

Von: Volker Eklkofer / Sendung: Martin Trauner

Stand: 30.05.2019 | Archiv

GeschichteMS, RS, Gy

Allen Urbanisierungstrends zum Trotz: Das Dorf hat als Siedlungsform überlebt. Es überstand Krisen, Kriege und Landflucht, ertrug massive sozio-ökonomische Veränderungen und profitiert heute von Bürgerengagement und Anpackkultur.

Die Entstehung beständiger Dorfgemeinschaften

In der Jungsteinzeit (Neolithikum, 5.500 bis 2.200 vor Christus) endet das Umherstreifen der Menschen als Jäger, Sammler und Fischer. Sie werden sesshaft und gehen zu Ackerbau und Viehzucht über. Kleine Siedlungen mit eng beieinander liegenden Häusern, die den Bauern und ihrem Vieh Schutz bieten, werden errichtet.

Dörfer gibt es hierzulande also schon seit langer Zeit, doch auf Dauer bleiben nur Orte stabil, die die ab dem 5. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung entstanden sind. Viele dieser Dörfer, deren Ursprung in der Übergangsphase von der römischen zur germanischen Welt liegt, erleben im frühen und hohen Mittelalter eine Blütezeit. Stadt-Land-Beziehungen entwickeln sich, neue Handels- und Gewerbezentren bringen für das bäuerliche Umland einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Spätes Mittelalter - Zeit der Wüstungen und der Landflucht

Mitte des 14. Jahrhunderts erfasst die Pest ganz Europa. Nach Schätzungen sterben in den Jahren 1347 bis 1352 etwa 25 Millionen Menschen, ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Der Handel kollabiert, im Handwerk und in der Landwirtschaft fehlen Arbeitskräfte. Überlebende verlassen die Dörfer, allein im Gebiet des heutigen Deutschland fallen von 170.000 Siedlungen etwa 40.000 wüst. Auch als sich die Lage wieder beruhigt, macht die Landflucht den Dörfern zu schaffen, denn das städtische Leben wird zunehmend attraktiv. Nicht selten bieten die Städte Unfreien und Hörigen, die sich dem Druck ihrer Grundherren entziehen wollen, Zuflucht ("Stadtluft macht frei").

Neuzeit - Bauernunruhen und Dreißigjähriger Krieg hinterlassen Spuren

Im 16. Jahrhundert sind die einzelnen Dörfer wieder deutlich gewachsen, neue hinzugekommen. Meist bilden Kirche und Friedhof den Mittelpunkt des Ortes. Neben den Höfen gibt es ein Wirtshaus und Handwerksbetriebe wie Schmiede und Mühle. An der Gesellschaftsordnung hat sich seit dem Mittelalter kaum etwas geändert, sie ist in Adel, Klerus, Bürger und Bauern gegliedert. Politische Rechte werden den Bauern meist vorenthalten, während Steuern und Abgaben steigen. Dennoch wächst, verstärkt durch die Reformation, das Selbstbewusstsein der Bauern. In den 1520er Jahren kommt es in Süddeutschland zu sozial-religiösen Unruhen, die in den Bauernkrieg 1524/25 münden. Söldnerheere des 1488 gegründeten Schwäbischen Bundes besiegen die einzelnen Bauernhaufen, denen eine einheitliche Führung fehlt. Nach Schätzungen sterben auf den Schlachtfeldern und bei den folgenden Strafaktionen mehr als 70.000 Menschen. In den Dörfern herrscht Trauer.

Während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) stellt sich der bayerische Kurfürst Maximilian I. (1573-1651) an die Spitze der katholischen Liga - und sein Land muss als Kriegsschauplatz besonders leiden. Als die Konfliktparteien Frieden schließen, sind große Teile Bayerns entvölkert und verwüstet. Es dauert Jahrzehnte, bis sich die Dörfer von den Verlusten erholen.

Das Dorf auf dem Weg in die Moderne

Schon im 18. Jahrhundert ist die Provinz nicht mehr abgeschottet, sondern in den Markt integriert. Die Dörfer haben nach wie vor eine landwirtschaftliche Basis, doch das Handwerk gewinnt im ländlichen Raum an Bedeutung. Einige Dörfer spezialisieren sich und werden zu "Händlerdorfern". Im Zuge des Austauschs zwischen Stadt und Land gelangen gesellschaftliche Strömungen auch in die Dörfer.

In den Städten dagegen wird das Landleben zunehmend idealisiert. Bürger schwärmen von der Naturnähe und Ursprünglichkeit der Dörfler, die als fromm, unverdorben und naiv gelten. Mit der Wirklichkeit eines harten Landlebens hat das nur wenig zu tun. In der Zeit des aufkommenden Nationalismus fällt im frühen 19. Jahrhundert der Blick erneut auf die Landbewohner. Ihre Nähe zur Natur und die "natürliche" Dorfgemeinschaft gelten als vorbildhaft. Dass das Dorf oft eine Zwangsgemeinschaft ist, in der Großbauern oder lokale Patriarchen das Sagen haben, wird übersehen.

Um 1800 leben 80 Prozent der Deutschen von der Land- und Forstwirtschaft, hundert Jahre später sind es nur mehr 35 Prozent. In dieser Zeit vollzieht sich im ländlichen Raum der Wandel zum modernen Dorf. Es erleidet zwar Bevölkerungsverluste durch die Abwanderung von Einwohnern in die aufstrebenden Industrieregionen und die Fabrikstädte, doch es bleibt erhalten - mit eigener Schule, Post und Kolonialwarenladen.

Die Technisierung der Landwirtschaft

Während sich in Westdeutschland in den 1950er Jahren das "Wirtschaftswunder" abzeichnet, erleben die Dörfer eine fortschreitende Technisierung. Kamen bislang häufig Pferde, Ochsen und manchmal auch Kühe zum Einsatz, verschwindet die tierische Zugkraft immer mehr. Im Zeitraum 1946 bis 1960 kaufen allein Bayerns Bauern mehr als 200.000 Traktoren. Ein nächster Schritt in Richtung Vollmechanisierungist der Mähdrescher, der mehrere, bislang aufwendige Arbeitsgänge vereint. Die Maschinen bringen den Bauern eine beträchtliche Zeitersparnis und führen zu einer deutlichen Produktionssteigerung.

Die Folgen dieser Entwicklung sind für die Dörfer tief greifend: Der Bedarf an Arbeitskräften sinkt. Maschinen ersetzen das auf den Höfen einst zahlreiche Gesinde, Motoren verrichten die Arbeit von Menschen. Bei den überflüssig gewordenen Landarbeitern macht sich Perspektivlosigkeit breit, sie ziehen in die Industriezentren. Der Bauernhof wandelt sich von einer Betriebsgemeinschaft, die vielen Menschen Arbeit, Unterkunft und Lohn gab, zum bäuerlichen Familienbetrieb.

Gebietsreformen in den westdeutschen Bundesländern erschüttern das Dorf in den 1960er und 1970er Jahren erneut. Die Kleinteiligkeit auf dem Land ist fusionswütigen Raumplanern ein Dorn im Auge. Sie ziehen neue Gemeindegrenzen, um leistungsfähigere Einheiten zu schaffen. Tausende kleine Orte werden "eingemeindet" und verlieren ihre Autonomie - plötzlich gibt es keinen eigenen Bürgermeister und keinen Gemeinderat mehr. Lokalpolitiker machen bald die Erfahrung, dass nach dem "Dörferlegen" das Verantwortungsgefühl der Menschen schwindet. Doch unerwartet schnell kommt die Gegenbewegung: Neue Heimatmuseen entstehen, mancherorts finden ein regelrechter Historienkult und eine Inszenierung von Heimat statt. Das Dorf lebt weiter.

Wandel des ländlichen Raumes

Durch die Abwanderung von Landarbeiterfamilien in die Industriezentren wandelt sich die Sozialstruktur der Dörfer. Bauernhöfe sind nun Familienbetriebe ohne Gesinde. In den Orten wohnen Handwerker und Angestellte, die zur Arbeit in die Städte fahren. Vielerorts hat das Dorf nur mehr am Rand bäuerlichen Charakter. In der Landwirtschaft findet ein Konzentrationsprozess statt. Bauern, denen es an Eigenkapital mangelt, sehen sich wachsendem Konkurrenzdruck ausgesetzt. Zahlreiche Kleinbetriebe verschwinden, Bauernhöfe stehen leer.

Die Abwanderung junger Leute, die in städtische Dienstleistungsberufe drängen, verschärft die Situation. Den Kommunen fehlt Geld, um die Infrastruktur zu erhalten. Läden und Bankfilialen schließen, Dorfschulen machen dicht, auf das Höfesterben folgt das Wirtshaussterben und den Vereinen fehlt der Nachwuchs. Viele Orte versuchen gegenzusteuern und ködern Städter mit günstigem Baugrund. An den Ortsrändern wuchern nun Neubausiedlungen und Gewerbegebiete, doch die Ortskerne entvölkern sich weiter. Urbane Lebensstile halten Einzug im Dorf - und manch alteingesessener Bauer oder Jäger, dessen Familie seit Generationen im Dorf den Ton angibt, sieht sich plötzlich als Umweltverschmutzer oder Tierquäler angeprangert.

Gelebte Solidarität - die Zukunft des Dorfes

Doch wieder zeigt sich, wie es der Geologe Gerhard Henkel formuliert, "die Kraft der kleinen Orte". Als Verödung droht, rufen engagierte Bürger integrative Dorfvereine ins Leben, die sich um die Ortsgestaltung und -entwicklung kümmern, Wünsche der Einwohner erfassen und ihre Aktivitäten mit Planern abstimmen. Nicht selten wird der Niedergang gestoppt. Wo sich die Bürger zusammenschließen, gelingt es, die die Infrastruktur zu verbessern, Gasthaus und Dorfladen neu zu eröffnen. Manchmal kann sogar die längst geschlossene Dorfschule zurückgeholt werden und auch die Brauchtumspflege erhält einen neuen Schub. "Das Dorf", sagt Gerhard Henkel in der Sendung, "hat Erfahrung, seit dem Mittelalter, immer wieder die Defizite in die Hand zu nehmen, anzupacken".


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