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Grillparzers zweite Nachkriegskarriere

Franz Grillparzer Grillparzers zweite Nachkriegskarriere

Stand: 02.05.2017

Franz Grillparzer in seinem Arbeitszimmer Holzstich nach F. Kanitz 1860 | Bild: picture-alliance/dpa

Die erste Inthronisierung des Nationaldichters Grillparzer fällt mit der Errichtung des Deutschen Reichs und der Fundierung eines eigenwertig-österreichischen Kulturbewusstseins zusammen. Was den Dichter vor allem lorbeertauglich macht, ist seine Qualität als Konsenskandidat: Er tritt politisch oder stilistisch niemandem auf die Füße, steht praktisch solitär für das österreichische Theater der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gilt als Erbe Goethes und Schillers und begründet die Eigenständigkeit einer nicht norddeutsch-preußisch oder allgemein "reichsdeutsch" geprägten, dezidiert österreichischen Literaturtradition.

Nazis? Wir? Geh bitte, des ned a no!

Diese Eigenschaften empfehlen Grillparzer nicht nur 1871. Sie stehen auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder hoch im Kurs. Wie 75 Jahre zuvor sieht sich Österreich erneut gezwungen, seine Stellung zum "Deutschtum" zu definieren. Und vor allem muss Österreich die Frage seiner Verstrickung in die Katastrophe des NS-Terrors klären. Müsste muss es heißen. Denn statt den eigenen Anteil an den Gräueltaten des Naziregimes aufzuarbeiten, büxt die Alpenrepublik aus. Österreich pflegt den Mythos eines ersten Opfers der nationalsozialistischen Aggression und verweigert die schmerzliche Konfrontation mit seiner Täterrolle.

"Grillparzer ist eine österreichische Verpflichtung!"

Die kollektive Opferthese ist ein wesentliches Element der österreichischen Nachkriegsidentität. Sie wird sogar im Staatsvertrag festgeschrieben, der am 15. Mai 1955 in Kraft tritt. Fünf Monate später, am 14. Oktober 1955, soll das nach Kriegszerstörungen wiederhergestellte Nationaltheater feierlich eröffnet werden. Als dessen Direktor Alfred Rott ankündigt, die restaurierte "Burg" mit Goethes "Egmont" einzuweihen, laufen konservative Kreise Sturm. Ein "reichsdeutsches" Stück sei dem hohen Anlass völlig unangemessen, poltern die Empörten. Für die Wiedereröffnung komme nur ein Stück in Frage: Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende". Die Anti-Goethe-Fraktion erhält rasch Zulauf und erklärt Grillparzer schlichtweg zur "österreichischen Verpflichtung". Schließlich bläst die Tageszeitung "Neues Österreich" die Frage "Grillparzer oder Goethe?" zur Notwendigkeit einer "geistig-sittlichen Standortbekundung" auf und fordert: "Wir brauchen die nationale, die österreichisch-nationale Besinnung". Am Ende sind die Fronten so verhärtet, dass die Politik eingreifen muss. So entscheidet zuletzt ein Ministerrat zugunsten des Österreichers gegen den Deutschen: Das Burgtheater wird mit Grillparzers "Ottokar" und nicht mit Goethes "Egmont" wiedereröffnet.

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Franz Grillparzer (1791-1872), Farbdruck nach Miniatur von Moritz Daffinger (1790-1849) | Bild: picture-alliance/dpa zum Thema Franz Grillparzer Der österreichische Nationaldichter

Zwiespältig, der Mann wie sein Werk: Grillparzer ist trocken, sperrig, umschweifig, museal. Aber auch überraschend modern, bissig, psychologisch, raffiniert. Einer, der nicht auf Anhieb erobert, sondern langsam erobert sein will. [mehr]