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Das Sonett als strukturelle Diagnose der Welt

O helles Licht, erleuchte meine Nacht Das Sonett als strukturelle Diagnose der Welt

Stand: 27.09.2016

Historische Handschrift von Andreas Gryphius um 1640 aus dem Bildatlas zur Geschichte der Deutschen Nationalliteratur von Gustav Könnecke, 1887 | Bild: mauritius-images

Für das 17. Jahrhundert ist die menschliche Existenz nur in Gegensätzen denk- und darstellbar. Ein fundamentaler Widerspruch zwischen Körper und Seele, zwischen dinglicher Natur und geistigem Wesen durchzieht die Schöpfung: Die Welt der sichtbaren Dinge ist nichtig und bestenfalls der zeichenhafte Hinweis auf die wahre, den Sinnen verborgene Wirklichkeit Gottes. Diese Wirklichkeit ist unsichtbar und nur im Glauben oder durch geistige Bilder erfahrbar.

Die Struktur des Kunstwerks deutet die Welt

Das Sonett bildet die antithetische Grundspannung in seinem Aufbau ab und wird so zum strukturellen Ausdruck der Welt- und Wirklichkeitserfahrung des 17. Jahrhunderts. Gryphius nutzt die formalen Besonderheiten der in Deutschland erst wenige Jahre zuvor durch Martin Opitz eingeführten Gedichtform souverän. Die klare Gliederung in zwei Vierzeiler (Quartette) und zwei anschließende Dreizeiler (Terzette) erlaubt ihm, argumentative Blöcke als vielstimmigen Schlagabtausch harter Gegensätze und dissonanter Mehrdeutigkeiten gegeneinander zu stellen. Erst ganz am Schluss, meist in der letzten Zeile, beendet ein überraschender Umschlag alles Räsonieren, Hadern, Zweifeln und Bangen: Die rasende Irrfahrt der Gegensätze und Zwiespältigkeiten kommt in Gott zu Ruhe, Gewissheit und Klarheit.

Der Alexandriner: Die Welt der Gegensätze im Vers

Das im deutschen Sonett vorwiegende Versmaß des Alexandriners mit seiner als Lese- oder Atempause eingebauten Zwangszäsur spiegelt die antithetische Grundstruktur auf Zeilenebene. Gryphius bringt das Spiel mit dem obligaten Einschnitt in der Versmitte zu unerreichter Meisterschaft: "Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein, / Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein / Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden. / Itzt lacht das Glück vns an / bald donnern die Beschwerden" - knapper, wuchtiger, eindringlicher als in diesen Alexandrinern des Andreas Gryphius lässt sich die barocke Weltsicht nicht in einer Zeile fassen.

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Porträt von Andreas Gryphius | Bild: mauritius-images zum Thema Andreas Gryphius O helles Licht, erleuchte meine Nacht

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