Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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26. November 1862 "Alice im Wunderland" verschickt

Ein Mathematiker schreibt unter Pseudonym eine Geschichte, die ein Weihnachtsgeschenk sein soll. Doch dann hält er es nicht mehr aus - und schickt sie schon am 26. November 1862 ab. Sonderbar? Nein: Alice im Wunderland.

Stand: 26.11.2014 | Archiv

26 November

Mittwoch, 26. November 2014

Autor(in): Herbert Becker

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Angela Smets

Redaktion: Julia Zöller

An einem schönen warmen Tag saß Alice mit ihrer Schwester am Ufer eines Baches. Da lief ein weißes Kaninchen mit roten Augen an ihr vorbei; es blieb stehen, zog eine Uhr aus der Westentasche, schaute nach der Zeit und sagte: "Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!" Dann lief es weiter und verschwand in seinem Bau.

Phänomen Lewis Carroll

Derlei ist ganz und gar ungewöhnlich; dass die Geschichte tatsächlich passiert ist, kann man sich kaum vorstellen. Und man hört auch immer wieder, dass sie erfunden wurde - von einem Mann namens Lewis Carroll. Diesen Mann jedoch kann man sich ähnlich schwer vorstellen wie die Geschichte. Genau betrachtet ist auch er eine Erfindung. Das heißt, gegeben hat es ihn schon, aber er hatte einen ganz anderen Namen und zwar Charles Lutwidge Dodgson. Dieser Dodgson jedoch verwandelte seinen guten englischen Vornamen Charles in das nicht sehr englische Carroll, das seltene Lutwidge machte er zu dem geläufigeren Lewis.
Die beiden Vornamen drehte er um, den Familiennamen ließ er weg - und schon war er ein anderer. Welcher der richtige war, weiß man nicht. Wenn Lewis Carroll eine Erfindung war, müsste Charles Lutwidge Dodgson der Echte gewesen sein. Aber Dodgson war Mathematiker! Schon in der Schule ein Ass in Mathe! So einer erfindet eigentlich keine Geschichten - als Junge nicht, und später schon gleich gar nicht mehr. Aber wer weiß? Die Neigung, das eine umzudrehen, das andere wegzulassen und alles irgendwie zu verwandeln hatten sowohl Dodgson wie Carroll.

Alice zum Beispiel. Sie läuft hinter dem Kaninchen her und fällt in dessen Bau. Hinab, hinab, hinab. Als sie endlich unten angekommen ist, findet sie ein Fläschchen, trinkt daraus - und beginnt zu schrumpfen. Sie wird so klein, dass sie fast verschwindet. Aber dann findet sie einen Kuchen, isst ihn - und wird daraufhin riesengroß. Das können nur Märchengestalten? Von wegen! Diese Alice hat es wirklich gegeben, und Lewis Carroll hat sie persönlich gekannt! Wahrscheinlich ist der Bach, an dem sie mit ihrer Schwester saß, derselbe Bach, auf dem Carroll einmal gemeinsam mit ihr und ihren Eltern Boot gefahren ist. Liddell hieß die Familie, und der Bach hieß Themse. Ja, freilich, die Themse kennt man eher als Fluss, aber auch Flüsse verwandeln sich, sind mal breit, mal schmal, und meistens fangen sie als Bäche an.

Geschenk für ein "liebes Kind"

Alice war zehn, und bei der Bootsfahrt erzählte Carroll ihr und den anderen eine Geschichte. Das Kind war begeistert und bat ihn, sie aufschreiben. Das tat er auch. In seiner kleinen, sehr akkuraten Handschrift - es könnte fast die eines Mathematikers sein - brachte er, was er sich ausgedacht hatte, zu Papier und illustrierte es mit hübschen Zeichnungen. "Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag" schrieb er dazu. Das war 1864, und wahrscheinlich gefiel Carroll die Geschichte selber so gut, dass er nicht mehr bis Weihnachten warten konnte. Jedenfalls überreichte er sie Alice schon am
26. November. Später erschien das Ganze als Buch, unter dem Titel
"Alice im Wunderland".

Manche behaupten, Carroll habe Alice einen Heiratsantrag gemacht. Dazu hätte Alice wahrscheinlich dasselbe gesagt, was sie auch zu der Raupe sagte, die es normal fand, sich zu verpuppen. "Ich weiß nur, für mich wäre das sehr sonderbar". Woraufhin allerdings die Raupe meinte. "Für dich! Wer bist denn du?"


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