Bayern 2 - Das Kalenderblatt


1

20. Oktober 1349 Papst Clemens VI. verbietet die Flagellanten

Ist es Buße? Ist es Gebet - oder lustvolle Ekstase? Die Kirche war unentschieden, was sie von den Flagellanten und ihren Peitschen halten sollte. Autor: Christian Feldmann

Stand: 20.10.2016 | Archiv

20 Oktober

Donnerstag, 20. Oktober 2016

Autor(in): Christian Feldmann

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Im Jahr 1348 kam der Schrecken über das Land. "Die Pest ließ die Herzen der Menschen gefrieren", schrieb der Dichter Boccaccio in Florenz. Man sammelte die Leichen mit Karren ein und warf sie in rasch ausgehobene Massengräber. Eltern erwürgten ihre Kinder, um ihnen den furchtbaren Seuchentod zu ersparen. Kranken Mitbürgern verbarrikadierte man die Türen.

Todsünden als Pantomime

Und mit der Pest kamen die Geißler, die Flagellanten. Vermummt in Kapuzenmänteln, zogen sie mit Fackeln und Fahnen in die Städte ein, begrüßt von dumpfem Glockenklang. Sie gingen im Kreis umher, traurige Hymnen singend: "Jesus, durch deine Wunden rot / behüt uns vor dem jähen Tod!" – Sie entblößten den Oberkörper und schlugen sich selbst mit Peitschen, deren Riemen sie zu Knoten geflochten und mit spitzigen Eisenstücken zu grausamen Marterinstrumenten gemacht hatten. Dann warfen sie sich alle in Form eines Kreuzes zu Boden und präsentierten wie in einer Pantomime die Sünden, für die sie büßen wollten: Der Ehebrecher presste heulend seinen Unterleib gegen die Erde, der Meineidige streckte klagend drei Finger in die Höhe. "Sie fielen hin wie ein Stück Holz", berichtet der Mönch Heinrich von Herford. "Nur wer ein steinernes Herz hat, brach nicht in Tränen aus, wenn er dies sah."

Im italienischen Perugia hatten sich ein knappes Jahrhundert zuvor die ersten Flagellantengruppen zusammengefunden, während Bürgerkriege und Seuchen das Land verheerten und die Menschen fast schon sehnsüchtig auf den Weltuntergang warteten. Von Italien aus verbreitete sich die Bewegung rasant schnell bis nach Kärnten, Ungarn, Böhmen, Bayern, Schlesien, Polen.

Gegeißelt hatten sich zwar schon die ägyptischen Isis-Verehrer und die griechischen Dionysos-Anhänger. Doch nun erhielt die Geißelung einen aufregenden neuen Inhalt: Zum einen als spirituelle Übung im stillen Kämmerlein, wo man sich die verbotenen Leidenschaften aus dem widerspenstigen Körper peitschte.

Zum andern als öffentlich inszeniertes Spektakel, der Akteur zu einem zweiten Christus mutierte, zum blutüberströmten Opfer frommer Hingabe. Je intensiver sich die nackte Haut rötete und je lauter die Peitsche klatschte, desto mehr ergriff eine aus Angst und Lust gemischte Erregung das Publikum.

Bluttaufe gegen Wassertaufe

Mönche und Bischöfe hatten dem Treiben anfangs ihren Segen gegeben. Als sich nun aber auch Frauen den außer Rand und Band geratenen Scharen anschlossen, als die Geißler begannen, sich gegenseitig ihre Sünden zu beichten, und als sie die Bluttaufe durch die Peitsche über die Wassertaufe in der Kirche stellten, da erklärte sie die Kirchenführung für subversiv. Am 20. Oktober 1349 verbot Papst Clemens VI. in seiner Bulle "Inter sollicitudines" die Geißlerprozessionen als eine "hohle und abergläubische neue Religion" und beschuldigte die Flagellanten, an den zu Pestzeiten immer wieder aufflammenden Judenpogromen schuld zu sein.

Ausrotten ließ sich die Bewegung nicht, sie überlebte in privaten Zirkeln und Bruderschaften. In der Aufklärungszeit büßte die Lust an der Rute ihren religiösen Charakter ein, wandelte sich in französischen Salons und englischen Landhäusern zum erotischen Kick. Doch siehe da, die katholischen Fundis vom "Opus Dei" entdeckten den Reiz der heimlichen Selbstzüchtigung wieder. Ihr Gründer Escrivá de Balaguer empfiehlt die Geißelung - in Maßen - mit dem lockenden Argument: "Geliebt sei der Schmerz!"


1