Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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9. September 1924 Kinderpsychologin Hug-Hellmuth ermordet

Ihr Mörder kam aus dem engsten Familienumfeld. Rolf hieß der 18-jährige Neffe, der die erste Kinderpsychoanalytikerin der Welt, Dr. Hermine Hug-Hellmuth, am 9. September 1924 in Wien umbrachte. Als Kleinkind war er das Hauptbeobachtungsobjekt der Psychologin.

Stand: 09.09.2010 | Archiv

09 September

Donnerstag, 09. September 2010

Autor(in): Henrike Leonhardt

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

Als der Fall bekannt wurde, stürzten sich die Zeitungsreporter auf die Bewohner des Mietshauses Lustkandlgasse 10 im neunten Wiener Bezirk, notierten, was sie erfuhren: Eine recht unscheinbare kleine Person sei die Ermordete gewesen, schmächtig, nicht mehr jung, schon etwas grau im dunklen Haar. Immer streng gekleidet sei sie gewesen und sehr verschlossen. Schon freundlich, liebenswürdig, aber eben ganz zurückgezogen, eine Gelehrte halt. Nein - Feinde gab´s keine, sie habe ja nur für ihre Studien gelebt. Drum habe man ihr auch nicht "Fräulein" gesagt, sondern respektvoll "Frau Doktor". Und ihr Neffe: Der war nicht einfach "der Rolf" - nein, zu dem habe jeder "Herr Rolf" gesagt. Ein freundlicher, kluger Bursche. In letzter Zeit freilich habe man den nicht mehr gesehen ...

Der Fall war - nicht nur in Wien - eine ungeheure Sensation: Dr. Hermine Hug-Hellmuth, eigentlich Hermine Ludowika Hug, Edle von Hugenstein, die erste Kinderpsychoanalytikerin - ein Opfer der Gewalt! Leiterin der Erziehungsberatungsstelle in Sigmund Freuds Psychoanalytischem Ambulatorium! Eine Frau mit einer ungewöhnlichen Karriere: Dissertation über Radioaktivität. Lehrerin. Freudschülerin. Hat Freuds bahnbrechende Lehre von der frühkindlichen Sexualität mit Beobachtungen und vielbeachteten Publikationen zu belegen versucht. Hauptobjekt ihrer Beobachtungen war - und das verschwieg sie keineswegs - ihr Neffe Rudolf, Rolf Hug, unehelicher Sohn ihrer Schwester. Als die starb, war sie mit wechselnden Vormunden für den Jungen verantwortlich. Sie hat ihn belauert: Wie er nuckelte, wie er bieselte etc., wie lustvoll der Neffe sein Zipferl hielt. Sie vermerkte seine frühkindlichen Erektionen und publizierte interpretierend die aufgeregten Knabenträume. Rolf begann zu klauen: als Versuche der "Identifizierung" hat sie das analysiert.

Welcher Schock dann für den 14-Jährigen, als die Tante - überfordert und entnervt - ihre Langmut verlor, ihn aus seiner Chemiefachschule riss und in ein "Schutzheim für verwahrloste Kinder" steckte. Das war 1922. Nun stellte er Geldforderungen, die sie mal erfüllte, meistens verweigerte. Sie verbot ihm das Haus, begann ihn zu fürchten. Obendrein geriet Hermine Hug-Hellmuth in die Kritik jüngerer Analytiker: Ihre Kinderanalyse sei vor allem eine "Neffen-Analyse".

Auch warf man ihr vor, das von ihr als authentisch herausgegebene Aufsehen erregende "Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens", sei keineswegs authentisch, wahrscheinlich eine Fälschung. Dass Freud dieses Werk nun aus seiner Schriftenreihe herausnahm, brachte sie vollends in Bedrängnis. Öfter äußerte Hermine Hug Suizidgedanken.

Die Umsetzung erübrigte sich: Rolf Hug, ohne Obdach, ohne Arbeit und Geld, sah keinen anderen Weg, als bei seiner Tante einzubrechen. Als er in der Nacht zum 9. September 1924 durch ein Fenster in die Wohnung stieg, schreckte die Tante auf, sie schrie ------ "Es ist geschehen wie ein Unglück geschieht", wird Rolf Hug bei seinem Prozess sagen - und wenn man immer für alles eine Entschuldigung habe, so gewöhne man sich bald daran, an nichts etwas zu finden. Den Mord würde sie sicher als Ödipuskomplex aufgefasst haben. Das Urteil: Raubmord. Der 18-Jährige erhielt 15 Jahre schweren Arrest.

Kann es eine Moral dieser Geschichte geben? Helene Deutsch, eine Kollegin der Frau Dr. Hug-Hellmuth, hat sie festgehalten: "Kinder wollen nicht beobachtet, sondern geliebt werden."


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