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Orlando, Nizza, München Sind Massenmorde Männersache?

Sogenannte "Amokläufe" begehen zu 90 bis 95 Prozent Jungen oder Männer. Warum? Indizien liefern zwei aktuelle Studien: Die meisten Täter sehen sich als "Opfer einer Ungerechtigkeit", fühlen sich um ihre vermeintlich "berechtigte Vorherrschaft als weiße Männer" gebracht. Das versteht nur, wer sich mit unseren Geschlechterrollen beschäftigt. Eine Annäherung von Julia Fritzsche.

Von: Julia Fritzsche

Stand: 19.08.2016

Demonstration: Anfertigung eines Phantombildes,  Landeskriminalamt Baden-Württemberg | Bild: picture-alliance/dpa

Es ist ein Junge! Jedes Mal. Oder ein alt gewordener Junge: Ein Mann. Nizza, Würzburg, Orlando, Winnenden, Emsdetten, Oslo, Paris, München. Warum sind diese Massentötungen offensichtlich Männersache? Zwei aktuelle Studien liefern dafür erste Indizien. Die Studie der Uni Gießen zeigt: Die meist männlichen Täter fühlen sich extrem oft "gekränkt", "gedemütigt", "schlecht behandelt" oder "nicht beachtet". Die Studie der Western New Mexiko University analysiert: Die mehrheitlich männlichen, weißen, nach außen hin heterosexuellen Täter waren meist "depressiv", "sozial isoliert", "auf der Suche nach Ruhm", sahen sich um ihre "ihrer Meinung nach gerechtfertigte Vorherrschaft als weiße Mittelschichts-Männer gebracht" und als "Opfer einer Ungerechtigkeit".

Diese persönliche Krise oder Kränkung ist ein wichtiger Punkt, wenn man verstehen will, warum es zu solchen Taten kommt. Eine tragfähige Erklärung wird es meines Erachtens aber erst, wenn wir zusätzlich zur Krisensituation der Täter auch unsere Geschlechterrollen angucken, wie das zum Beispiel der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit oder die Sozialwissenschaftlerin Monika Lübbert tun.

Toxic Masculinity

Die meisten Gesellschaften erwarten seit Jahrtausenden von ihren Männern, dass sie stark, durchsetzungsfähig, heldenhaft, kämpferisch sind - dass sie ihre Umwelt kontrollieren. Die australische Soziologin Raewyn Connell nennt das "hegemoniale Männlichkeit" und beobachtet: Der "ideale Mann" ist Frauen und anderen nicht-hegemonialen Männern überlegen. Also denen, die als schwach angesehen werden, weil sie schwul, behindert oder arm sind, weil sie nicht die richtige Hautfarbe oder den richten Pass haben, oder weil sie einfach Zweifel und Ängste zeigen.

Verlierer des Patriarchats

Vom Patriarchat profitieren eben nur wenige Männer - ein trauriges Missverständnis. Zum Glück ist dieses Ideal vom "starken Mann" immer schon einigen Männern egal gewesen, doch es wirkt noch. So wird es zum Beispiel als "entmännlichend" empfunden, von einer Frau oder dem Staat abhängig zu sein, schreibt Monika Lübbert in ihrer Studie "Amok - Der Lauf der Männlichkeit". Diesem Ideal vom "starken Mann" nicht zu genügen, sondern zum Beispiel als junger Mann ausgegrenzt, schwach oder unsicher zu sein, kann frustrieren und demütigen. Genau diese Männer finden wir in den aktuellen Studien vor: Männer, die nicht so handeln können, wie sie sollen, oft "gekränkt", "gedemütigt", "in Beruf und Partnerschaft gescheitert" sind. Mit den Massentötungen wollen sie ihre "Macht demonstrieren", "Großartigkeit inszenieren", ihre "Ohnmacht in Allmacht verwandeln".

Kapitalistische Monster

Doch toxic masculinity ist nicht der einzig mögliche Grund. Konkret ausgelöst wird die Tat oft durch kurzfristige Ereignisse wie eine Trennung, akute Geldsorgen oder Ärger mit einer Behörde. Vor allem aber gibt es weitere mögliche langfristige Ursachen. Der Philosoph Franco Berardi sagt: Der globale Kapitalismus macht uns alle zu Konkurrenten. Also Kollegen untereinander, aber auch Konstrukte wie "der Westen" gegen "den Osten". Dieser ständige Vergleich und Leistungsdruck kann uns psychisch krank machen, so Berardi. Viele Täter galten ja als "Loser", waren ausgegrenzt. (David S. sagt das auf dem Video, kurz nachdem er neun Menschen erschossen hat: "Ich wurde gemobbt" und "Ich bin in einer Hartz-IV-Gegend geboren worden".) Und einige dieser vermeintlichen "Loser" wollen eben auch mal Sieger sein, wie es unsere Gesellschaft von uns erwartet. Sie wollen es einmal allen zeigen, in allen Medien auftauchen oder wenigsten in einer Gemeinschaft der Verlierer aufgehen. Das soll die Täter nicht entschuldigen, nur helfen nachzuvollziehen, warum sie töten. "Das sind Monster, die wir geschaffen haben", sagt Berardi.

Kaputte Körper

Kulturtheoretiker Klaus Theweleit

Der Freiburger Kulturtheoretiker Klaus Theweleit betont eher die körperlich-psychische Situation der Täter: Die meist jungen Männer in schwierigen Pubertätsphasen oder etwas später haben kein Verhältnis zu ihrem Körper entwickelt, haben oder sind "fragmentierte Körper", unsicher über ihre Sexualität, ihre Position in der Schule oder Arbeit, den Eltern gegenüber, haben keine verlässlichen Freundschaften, vielleicht wenig Berührungen erfahren. Mit dem massenhaften Erschießen, Erstechen, in die Luft Sprengen - was ja ein sehr körperlicher Vorgang ist - "verlebendigen" sie sich für einen Moment und erleben einen "Druckabfall", so seine These.

Warum töten Frauen nicht so oft?

Natürlich haben auch junge Frauen kein gutes Verhältnis zu ihrem Körper und auch Frauen leben im Kapitalismus. Aber unsere kapitalistischen Werte von Konkurrenz, Eigenverantwortung, Siegertum treffen eben Männer noch stärker, weil sie sich sehr stark mit dem Männlichkeitsbild decken. Das ist kein Zufall, denn unsere Gesellschaft ist am Mann als Norm ausgerichtet. Aber Mädchen und Frauen verfügen eben noch über andere Handlungs- und Rollenmuster. Sie haben in vielen Gesellschaften gelernt, eher in Beziehung zu anderen Menschen zu leben, nach den Bedürfnissen anderer zu fragen. Wenn sie Krisen durchlaufen, Probleme haben oder gekränkt werden, lösen sie das weniger aggressiv gegen andere, sondern zum Beispiel indem sie sich zurückziehen, sich selbst verletzten (z.B. Anorexie, Bulimie, Ritzen) oder sie sich - idealerweise - mit anderen besprechen.

Modebegriff "Amok"

An dieser Stelle ist ein kurzer Einschub zum Begriff "Amoklauf" nötig: Viele Taten, die wir "Amoklauf" nennen, sind nicht wie im ursprünglichen Wortsinne in "Raserei" oder "Wut" begangen, also im Affekt und ideologiefrei. Sie sind oft lange geplant. Zum Beispiel die sogenannten "Amokläufe" an Schulen: Die Täter legen Todeslisten und Gebäudepläne an, für den Tattag suchen sie das richtige Motto-T-Shirt. Und: Die Täter handeln in vielen Fällen, die wir "Amoklauf" nennen, durchaus ideologisch. (David S. in München und Breivik in Oslo hingen rechtsextremen Ideologien an, die Täter in Nizza und Orlando fanatisch-religiösen; übrigens alles frauenfeindliche Ideologien.) Deswegen lehnen viele - unter anderem Theweleit und Berardi - den Begriff ab, als Modebegriff, der die Ursachen oft verschleiert. Leider gibt es keinen guten alternativen Begriff für das massenhafte Töten in kurzer Zeit. Wo wir gerade bei den Medien sind: "Wenn Massenmedien sich entscheiden würden, nicht mehr im Detail zu berichten, also Namen zu nennen, Fotos der Täter zu zeigen und Statements der Täter abzubilden, würden innerhalb von ein bis zwei Jahren die Zahlen drastisch zurückgehen." Das hat die Studie der Western New Mexico University ergeben. Nach konservativen Schätzungen um ein Drittel.

Was aber tun?

Womit wir bei der Frage wären: Wie vermeiden wir, dass Männer töten? Mir erscheinen folgende Punkte wichtig:

  1. Nicht bestimmten Gruppen das Gefühl geben, sie seien etwas Besseres (z.B. Männern, Weißen, Wohlabenden).
  2. Möglichst viele Bereiche unseres Lebens nicht in Konkurrenz gestalten, sondern kooperativ und solidarisch, das heißt auch: Wir müssen uns ernsthaft mit unseren Mitmenschen beschäftigen (das hilft ganz konkret, denn viele Täter kündigen ihre Taten an).
  3. Das Bild vom Mann bearbeiten. Damit der Mann mit aller Selbstverständlichkeit in der Öffentlichkeit weinen, Röcke tragen und zuhause seine Wände pink streichen kann.

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