Bayern 2 - radioWissen


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Von der Arbeiterbewegung zur Massenpartei

Von: Volker Eklkofer / Sendung: Brigitte Kohn

Stand: 20.10.2014 | Archiv

Soziale und politische BildungMS, RS, Gy

Aus bescheidenen Anfängen entwickelt die deutsche Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wuchtige Kraft. In der Gesellschaft kann sie sich fest verankern, doch von der politischen Macht hält man sie fern.

Handwerker - die Verlierer des wirtschaftlichen Wandels

Wie zuvor in England verändert die Industrialisierung im 19. Jahrhundert auch in Deutschland die Gesellschaft. Mit dem Vormarsch der Maschinenarbeit gerät das Handwerk in schwere Turbulenzen. Viele Berufe werden entqualifiziert, die Arbeit wird verbilligt, kleine Betriebe sind nicht mehr konkurrenzfähig. Abstiegs- und Deklassierungsängste machen sich breit. Stolze Handwerker, die einst die "Mittelschicht" bildeten, werden arbeitslos. Sie wandern in die Städte ab und müssen sich als besitzlose Arbeiter, als Proletarier, durchschlagen. Doch es regt sich Widerstand. Noch im Vormärz entsteht eine Arbeiterbewegung, die sich auf Bräuche und Traditionen des Handwerks aus vorindustrieller Zeit besinnt.

1848 tagt auf Initiative des Schriftsetzers Stephan Born der erste allgemeine Arbeiterkongress in Berlin, die dort gegründete "Arbeiterverbrüderung" ist die erste umfassende Organisation der deutschen Arbeiterschaft. Das Scheitern der Revolution von 1848/49 bedeutet für die Arbeiterbewegung einen herben Rückschlag. Zwar nehmen sich nun Liberale, Angehörige der bürgerlichen Bildungselite, der unzufriedenen Industriearbeiter und der armen Stadtbevölkerung an, doch angesichts der sozialen Kluft und mangels liberalem Verständnis für die soziale Frage kommt kein politisches Programm zustande.

Ferdinand Lassalle - der Anwalt der Arbeiterschaft

Mit einer Kampagne für eine unabhängige Arbeiterschaft wirbelt ein Mann 1863 viel Staub auf: Ferdinand Lassalle, ein charismatischer Dandy, der sich zum Arbeiterführer berufen fühlt. Der Geisteswissenschaftler verkehrt gern in höfischen Kreisen, liebt schöne Frauen und guten Wein - und schafft es dennoch, als glaubwürdiger Verfechter von Demokratie und Sozialismus aufzutreten.

Lassalle erkennt, dass die Arbeiter eine schlagkräftige Organisation, eine politische Partei, benötigen. Um mehr Rechte zu erlangen und ihre soziale Lage zu verbessern, sollen sie an Wahlen teilnehmen. Am 23. Mai 1863 wird auf Initiative Lassalles in Leipzig, einer aufstrebenden Industrie- und Handelsstadt, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. Lassalle ist erster Präsident des ADAV. Die SPD betrachtet das Ereignis von Leipzig heute als Geburtsstunde der Sozialdemokratie.

Lassalles Programm sieht das allgemeine und uneingeschränkte Wahlrecht vor. Es bezieht Position gegen die Ausbeutung der Proletarier und fordert Produktivassoziationen, in denen Arbeiter mit finanzieller Unterstützung des Staates selbst unternehmerisch tätig werden. Die Ziele sollen auf friedlichem und legalem Weg erreicht werden, das Verhältnis zum Staat sieht Lassalle entspannt. Er denkt kleindeutsch und will die anstehende staatliche Frage mit Preußen lösen.

Bekenntnis zum Klassenkampf - die Sozialdemokratische Arbeiterpartei

Als es bei den Lassalleanern zum Richtungsstreit kommt, rufen Unzufriedene um August Bebel und Wilhelm Liebknecht am 7./8. August 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ins Leben. Sie fordern - im Sinne von Karl Marx - die Abschaffung der Klassenherrschaft und hoffen auf einen Kollaps des kapitalistischen Systems. Ganz dem kommunistischen Fortschrittsdenken verhaftet, glauben sie an historische Gesetzmäßigkeiten, die in die Abschaffung der "jetzigen Produktionsweise" münden und zur Errichtung eines "freien Volksstaates" führen. Im Gegensatz zu Lassalle denkt August Bebel großdeutsch und will die staatliche Frage mit Preußen und Österreich lösen.

Gotha 1875 - die Spaltung der Sozialisten wird überwunden

Nach der Einigung Deutschlands 1871 stößt die sozialdemokratische Idee bei der Arbeiterschaft mehr und mehr auf Zustimmung. Reichskanzler Otto von Bismarck, der noch einige Jahre zuvor halbherzig mit Ferdinand Lassalle verhandelt hatte, verschärft die Verfolgung der Sozialisten. Nicht zuletzt unter dem Druck des Staates versammeln sich reformorientierte Lassalleaner und revolutionäre Marx-Anhänger vom 22. bis 27. Mai in Gotha. Die beiden sozialdemokratischen Strömungen vereinigen sich zu einem Strom, die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) entsteht. Das Gothaer Programm, entworfen von Wilhelm Liebknecht, berücksichtigt Ziele beider Parteiflügel. Tatsächlich aber geben antipreußische Kräfte um August Bebel den Ton an. Die Partei tritt in scharfen Gegensatz zum Kaiserreich. Bei den herrschenden Eliten wächst die Angst vor der "roten Gefahr".

Die Zeit der Repression

Nachdem Kaiser Wilhelm I. im Mai 1878 ein Attentat unbeschadet überstanden hat, wird er im Juni von einem Wirrkopf namens Karl Nobiling mit einer Schrotflinte beschossen und verletzt. Geschickt schürt Otto von Bismarck die Mitleidsstimmung in der Bevölkerung, das Reich verfällt in einen Zustand der Hysterie. Ohne nachgewiesene Verwicklung der Sozialdemokratie in die Anschläge initiiert Bismarck im Oktober 1878 das "Sozialistengesetz" und startet einen Feldzug gegen die "vaterlandslosen Gesellen". Organisationen der SAP und Zeitungen werden verboten, Literatur landet auf dem Index, Parteifunktionäre werden von der Polizei überwacht. Die Teilnahme an Parlamentswahlen darf die Regierung den Sozialdemokraten aus Verfassungsgründen aber nicht verwehren.

Neben dem Bemühen, die SAP mit polizeistaatlichen Mitteln klein zu halten, versucht Bismarck durch eine Sozialgesetzgebung die Arbeiter der Partei zu entfremden. Die SAP verharrt in einem Zustand der Semi-Illegalität, nutzt aber die düstere Zeit des Verbots zur Schaffung einer speziellen sozialdemokratischen Lebenswelt mit Turn-, Theater-, Sänger oder Schachvereinen, Kindergärten und Leihbüchereien. Dank dieser Gegenöffentlichkeit verankert sich die Sozialdemokratie fest in der Gesellschaft. Als das "Sozialistengesetz" 1890 fällt, ist der Aufstieg der Sozialdemokratie nicht mehr zu stoppen. Bei der Reichstagswahl im Februar 1890 erhält sie knapp 3,5 Millionen Stimmen (19,8 Prozent).

Die SPD stürmt von Erfolg zu Erfolg

Wieder gegründet als Sozialdemokratische Partei Deutschlands gibt sich die SPD auf dem Erfurter Parteitag im Oktober 1891 ein neues Programm. Sie bekennt sich zur marxistischen Ideologie, präsentiert sich in der Praxis aber reformorientiert. Fortan bestimmen die Spannungen zwischen dem rechten - revisionistischen - Flügel, der mit dem bürgerlichen Klassenstaat Frieden schließen möchte, und dem linken - revolutionären - Flügel, der den Klassenstaat mit Massenstreiks bekämpfen will, das Erscheinungsbild der SPD. In der Erfolgsspur bleibt die SPD dennoch. Bei der Reichstagswahl 1912 erreicht sie 34,8 Prozent und stellt mit 110 Abgeordneten die stärkste Fraktion.


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