Bayern 2 - radioWissen


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Pilgern in den Weltreligionen

Von: Jens Berger / Sendung: Sylvia Schopf

Stand: 07.10.2015 | Archiv

ReligionMS, RS, Gy

Religiöse Pflicht oder transzendente Selbstfindung? Lust am Gehen und am Fremder-in-der-Fremde-Sein? Opfer bringen und Sinn empfangen? Was bringt zwischen Jakobsgrab und Gangesbad die Menschen auf den (Pilger-)Weg?

Uralte Kulturtechnik

Bei vielen rätselhaften Orten der Vorgeschichte, zum Beispiel Stonehenge, liegt die gleiche Erklärung nah: Hier handelte es sich um eine Pilgerstätte. Was zeichnet eine solche aus? Gibt es Unterschiede zwischen den Religionen? Wo liegen Gemeinsamkeiten? Und was ist überhaupt der Sinn des Pilgerns? Aus europäischer Sicht scheint aktuell die entschleunigte Sinnsuche, die Herausnahme aus der hektischen Welt im Vordergrund zu stehen. Das war nicht immer so. Meist ging und geht es um eine - wie auch immer geartete - Beziehungspflege zum Göttlichen, um Dank, Gebet und Opfer.

Weltweites Phänomen

Alle Weltreligionen kennen das Pilgern. Nur Luther hielt nicht viel davon, entdeckte er hier doch Götzenverehrung und Ablasshandel. Obwohl das Unterwegssein seit dem Judentum - und darauf folgend im Christentum und Islam - integraler Bestandteil des Selbstverständnisses ist: "Schon Abraham und sein Volk waren auf dem Weg; also sind es auch wir." Im Islam gehört das Pilgern als eine der "Fünf Säulen" dann sogar zu den unumgänglichen Glaubenspflichten. Man geht auf Große und Kleine Pilgerfahrt nach Mekka zum Geburtsort Mohammeds, nach Medina zu seinem Grab und nach Jerusalem.

Der Buddhismus legt eine ähnliche Messlatte bei der Auswahl seiner Pilgerziele an. Um Buddha nah zu kommen besucht man jene Orte, an denen Siddhartha Gautama lebte, zum Buddha wurde und lehrte: seinen Geburtsort Lumbini in Nepal, Bodh Gaya als Ort seiner Erleuchtung, Sarath als erste Lehrstätte und Kushinagar als seinen Sterbeort. Die größeren Pilgerströme in Indien werden allerdings von den Hindus geprägt, gibt es doch nicht nur mehr Anhänger, sondern auch weitaus mehr heilige Orte, "Tirthas" genannt. Sogar einzelne Menschen, beispielsweise besonders enthaltsame Asketen, können den Tirtha-Status erlangen. Allen Pilgerzielen ist dabei gemein, dass man immer dorthin geht, wo etwas das Normale überschreitet. Damit besitzen sie nicht nur symbolische, sondern sogar transzendente Bedeutung.

Ist der Weg das Ziel?

Dabei zählt aber nicht nur der letzte Meter. Man ist in der Fremde, nicht einfach nur woanders, sondern auch innerlich fern von Vertrauten und Vertrautem, ganz auf sich gestellt - und damit vielleicht näher bei sich. Man taucht nicht nur symbolisch ins Wasser ein; man nimmt ein Bad in der Gemeinschaft der Fremden und wird damit Teil einer neuen Gemeinschaft mit all ihren Bräuchen, Pflichten und Verboten. Eine Pilgerreise umfasst dabei nicht nur das eine oder andere Opferrituale, sie ist an sich bereits eines. Man gibt etwas von sich, was einem im "sonstigen" Leben wichtig ist: Geld, Zeit, Energie, Frisur, soziale Kontakte. So erfährt man sich zumindest auf Zeit in einem "anderen" Leben. Dass für diese Strapazen Kaufpilger ihre Dienste feilbieten, ist dabei keineswegs ein neuzeitliches Phänomen.

Soll man dazu zwischen Pilger- und Wallfahrt, die sich entgegen der Ansicht vieler Hobbyetymologen nicht von der heidnischen "Waldfahrt" herleitet, unterscheiden? Früher verwendete man Wallfahrt und Pilgern synonym, heute finden sich viele angestrengte Unterscheidungen (nah/fern, zu Fuß oder nicht, allein oder in der Gruppe ...), die sich nicht auf eine gemeinsame trennende Definition einigen können. Der Pilger bleibt aber auf seiner Reise nach wie vor jener Fremde, der von jenseits des Ackers kommt ("per agrum" → "peregri" → "pelegrino" → "Pilger"). Daheim zu pilgern wäre also eine knifflige Aufgabe.

Fern und nah: der Jakobsweg

Heute ist der Weg in die Ferne ein besonderer Reiz, der einst mit großen Risiken verbunden war. Ein mittelalterlicher Jakobsweg-Pilger verabschiedete sich tränenreich von seiner Familie. Dabei ist außerhalb der Bibel gar nicht belegt, ob der Apostel Jakobus überhaupt jemals die Iberische Halbinsel erreichte. Vielleicht wählte man seinerzeit den Nordwesten Spaniens auch aus anderen Gründen. Er war hinreichend abgelegen (ein bisschen soll man sich schon anstrengen müssen), aber halbwegs gefahrlos zu erreichen, nämlich im Gegensatz zu Jerusalem nicht feindlich besetzt. (Man sollte ja schließlich zurückkehren und berichten können.)

Heute würde man zusätzlich noch vermuten, dass wirtschaftliche Ziele mit im Spiel waren, denn Pilgerstöme bringen auch Geld. Seit den 1980er Jahren stieg die Zahl der Jakobsweg-Pilger von 8.000 auf 240.000. Und spätestens seit Kerkelings Besteller quillt das Netz über: Pilgerforen mit Fußpflegetipps und den "10 Geh-Boten des Pilgerns", Reiseunternehmen mit Pauschalangeboten ("Original-Jakobsmuschel inklusive!") und Erfahrungsberichte von jedem, der "dann mal weg" war.


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