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Ein Dasein voller Widersprüche

Von: Volker Eklkofer / Sendung: Margarete Blümel

Stand: 04.05.2016 | Archiv

ReligionMS, RS, Gy

Patriarchat und religiöse Hindu-Traditionen gehen in Indien Hand in Hand. Die Frau wird als dienende Gattin geachtet, sonst aber in ein unterwürfiges Leben gepresst. Frauenemanzipation und Hindukultur scheinen schwer vereinbar.

Hindu-Religionen: Keine doktrinären Schriften, aber ein Grundkonsens besteht

Die Vorstellung, "der Hinduismus" sei eine einheitliche Einzelreligion, wurde zunächst von christlichen Missionaren in die Welt gesetzt. Später griffen indische Politiker die Idee auf, um dem verwirrend vielgestaltigen Subkontinent ein bindend-nationales Mäntelchen umzuhängen. Tatsächlich gibt es in der von sozialen Extremen geprägten Region mit 1,3 Milliarden Menschen, unterschiedlichen Völkern, Kulturen und Sprachen diverse religiöse Strömungen, die sich unter dem Begriff Hindu-Religionen subsumieren lassen.

Hindu-Religionen sind keine Stifterreligionen, verbindliche Texte wie Bibel oder Koran existieren ebenso wenig wie Propheten, eine "Kirche" oder eine Art "Papst". Was die Hindu-Religionen zusammenbringt, ist der Glaube an einen Kreislauf des Sterbens und der Wiedergeburt mit einer endgültigen Erlösung. Einvernehmen besteht auch über eine Gesellschaft mit erblichen Ständen (Kastensystem), eine in Etappen gegliederte Lebensführung und die Verehrung bedeutender Schriften (Veden, Puranas, Epen). Zahlreiche Anhänger der Hindu-Religionen bekennen sich zu einem Gemenge dauerhaft gültiger Normen und zu einem Verhaltenkodex, der auf dem Gesetzbuch Manus (Manusmriti), des Stammvaters der Menschheit, beruht.

Diskriminierung der Frau als Teil des religiösen Selbstverständnisses

Indien ist ein Land voller Widersprüche. Indien ist Wirtschafts- und Atommacht und unterhält ein ambitioniertes Weltraumprogramm. Frauen sind im modernen Indien als Managerinnen, Ärztinnen, Ministerinnen, Diplomatinnen, Richterinnen oder Journalistinnen aktiv. Schon vier Jahrzehnte bevor in Deutschland mit Angela Merkel erstmals eine Frau als Bundeskanzlerin antrat, wurde Indira Gandhi Regierungschefin Indiens. Dies ist die eine Realität auf dem Subkontinent; doch eine andere lässt Millionen Frauen in Unterdrückung und Sklaverei verharren.

Hindu-Traditionalisten verehren Frauen zwar als dienende Gattinnen und respektieren sie in ihrer Mutterrolle, verweigern ihnen aber die Anerkennung als eigenständige Individuen. Dabei berufen sie sich auf eine Basisschrift der Hindu-Religionen, das Gesetzbuch Manus. Das Werk fußt auf mündlichen Überlieferungen, die von mehreren Autoren zwischen 200 vor und 200 nach Christus zusammengetragen wurden. Die Gebote Manus, die als Wegweiser im Dickicht religiöser, ethischer und sozialer Fragestellungen dienen, haben sich tief in die Psyche der Hindu-Gesellschaft eingebrannt.

Nach Manu ist die Frau schwach, es ist ihre "Natur, dass sie die Männer verdirbt". Frauen sollen nicht selbständig handeln, nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Es gilt das Vormundschaftsprinzip: Das Mädchen wird vom Vater kontrolliert, die Frau vom Gatten, die Witwe von den Söhnen. Einem Ehemann wird göttlicher Status zugesprochen: Die Frau hat den Dienst an ihm als persönlichen Gottesdienst zu verstehen - "auch dann, wenn er keine guten Eigenschaften besitzt". Nach seinem Tod soll sie fortwährend Trauer tragen.

Religiös mündig kann eine Frau ebenfalls nicht sein, Mädchen werden deshalb von der Upanayana, einer Art Jugendweihe, ausgeschlossen. In der Kastenhierarchie wird die Frau auf der Ebene der Knechte (Sudras) eingruppiert.Die der Frau zugewiesene Rolle der Dienerin wird auch in einer anderen für die Hindu-Religiosität bedeutsamen Schrift, der Bhagavad Gita (Gesang des Erhabenen), hervorgehoben. Die Gita zeigt Wege zur Erlösung auf.

Ramayana - das indische Nationalepos

Die Befürworter einer Unterordnung der Frau greifen auch gern auf das vor etwa 2.000 Jahren entstandene Epos "Ramayana" zurück, das vermutlich von dem Dichter Valmiki stammt. Es gibt verschiedene Versionen der Heldengeschichte, doch die Kernbotschaft ist, dass Sita, die Frau des Königsohns Rama, ihrem Gatten in jeder Lebenslage fraglos treu ergeben ist. Sita wird entführt, aber den Heiratswünschen des Kidnappers, des Dämons Ravana, verweigert sie sich konsequent. Nach ihrer Befreiung zweifelt Rama an Sitas Treue. Sita begibt sich ins Feuer, um ihre Reinheit zu beweisen.

Indische Kinder werden schon früh in Comics mit dem "Ramayana"-Epos vertraut gemacht, in Schulen wird Sita als Idealbild der Ehefrau gepriesen. Werden "Ramayana"-Verfilmungen im TV gezeigt, sind sie Straßenfeger, und nicht wenige Inder glauben an die Echtheit der Ereignisse. Indische Feministinnen versuchen verzweifelt gegen die Sita-Verherrlichung anzukämpfen, indem sie betonen, dass die Unterwürfigkeit der Heldin gegenüber Rama, einem gefühllosen und gewaltbereiten Ignoranten, gänzlich fehl am Platze ist.

Indien - ein religiös-kultureller Raum, in dem Frauenfeindlichkeit gedeiht

Im Umfeld der Hindu-Religionen sind Denkweisen entstanden, nach denen der Mann im Mittelpunkt steht und die Frau nur wenig zählt. Unzählige Inder haben diese Vorstellungen tief verinnerlicht. Seit Jahrhunderten werden auf dem Subkontinent Frauen diskriminiert, von Bildung ausgeschlossen und aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Ein männlicher Kontrollwahn ließ gerade in ländlichen Regionen das Heiratsalter immer weiter sinken. Obwohl die indische Verfassung die Gleichheit aller Personen garantiert und Gesetze zur Besserstellung der Frau existieren, werden diese von Dorfpotentaten, unteren Ebenen der Justiz und Polizisten immer wieder unterlaufen.

In vielen Familien gelten Mädchen als Bürde. Vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung betrachtet man sie als Belastung, denn sie verursachen hohe Kosten (Mitgift). Viele Mädchen bekommen weniger zu essen als ihre Brüder, bei Krankheit dürfen sie nicht zum Arzt gehen, entsprechend niedrig ist ihre Lebenserwartung. Oft werden weibliche Föten abgetrieben, manchmal kann sich eine Hebamme etwas dazuverdienen, wenn sie ein weibliches Baby gleich nach der Geburt umbringt.

Im Anschluss an eine Heirat müssen Frauen im Haushalt des Mannes schuften. Und wenn die Brautausstattung nicht reicht, ist ein Mitgiftmord (gern getarnt als Haushaltsunfall) nicht ausgeschlossen. Nach Schätzungen von Genderökonomen, die von den "fehlenden Frauen" in der indischen Gesellschaft sprechen, sterben in Indien jährlich mehr als zwei Millionen Menschen an den Folgen mädchen- bzw. frauenfeindlicher Aktivitäten.

Witwen legte man noch bis ins 20. Jahrhundert die Totenfolge (Witwenverbrennung) nahe. Und obwohl sie heute erbberechtigt sind, werden Witwen häufig verstoßen und fristen ein kümmerliches Dasein als mittellose Einsiedlerinnen.

Wenn männliche Überlegenheitsphantasien ausgelebt werden…

In einer Gesellschaft, die Frauen als Dienerinnen des Mannes betrachtet, Söhne verhätschelt und Töchter vernachlässigt, ist es kaum verwunderlich, dass Frauen, die es wagen, den häuslichen Schutzraum zu verlassen, als Freiwild betrachtet werden. Sexuelle Belästigung ("Eve Teasing"), Bedrohung und (Gruppen-)Vergewaltigung sind Mittel, um Frauen zu disziplinieren und sie aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten. Männliche Machtpositionen sollen so gesichert werden. Lange Zeit bekamen die Täter Rückendeckung von Polizei und Justiz.

Spektakuläre Fälle wie die Vergewaltigung und Ermordung einer Studentin im Jahr 2012 oder Übergriffe auf Touristinnen haben weltweit für Aufsehen gesorgt und in Indien Massenproteste ausgelöst. Vor Gericht gaben die Täter Einblicke in ein - aus westlicher Sicht - abstruses Wertesystem, das Frauen die Schuld an einer Vergewaltigung zuweist.

Langsam schwindet die Dominanz der Männer

Indien ist, wie bereits erwähnt, voller Gegensätze. Indien ist ein Land der Unterdrückung und ein Land der Moderne. Indiens populäre Epen wie das "Mahabharata" zeichnen einerseits das Bild der unterwürfigen Frau, präsentieren aber andererseits starke Heldinnen wie Draupadi, die die Männer ihrer Familie nach einem sexuellen Übergriff wegen mangelnder Hilfe heftig kritisiert.

Viele junge Paare vor allem aus der urbanen Mittelschicht bekennen sich heute zu ihren Töchtern. Ältere sind nicht mehr auf die Versorgung durch die Söhne angewiesen, die Unterstützung kommt von beruflich erfolgreichen Töchtern. Auch traditionelle Hindufamilien schätzen längst die Vorteile eines zweiten Einkommens und haben nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Frau zur Arbeit geht. Im Job wächst der Stolz der Frauen auf das eigene Können, Rollenzwänge verlieren an Bedeutung.

Landesweit aktiv - Indiens Frauenbewegung

Erste Impulse zum Aufbegehren der indischen Frauen gab bereits die britische Kolonialmacht, indem sie Mädchenschulen gründete, gegen Kinderehen vorging und 1829 die Witwenverbrennung verbot. Wenngleich die Anordnungen der Engländer häufig unterlaufen wurden, war die Idee der Emanzipation in den Köpfen mancher Frauen verankert. Sie wurden in sozialen Reformbewegungen aktiv und unterstützten den Unabhängigkeitskampf.

Mahatma Gandhi (1869-1948), Initiator des gewaltlosen Widerstands und Idol von Millionen Hindus, verurteilte die Unterdrückung der Frauen, konnte aber, wie er einmal gestand, zumindest der Vorstellung vom Heimchen am Herd durchaus etwas abgewinnen. Jawaharlal Nehru (1889-1964), der erste Ministerpräsident Indiens, brachte gegen große Widerstände von Hindu-Traditionalisten Gesetze zur Frauenförderung auf den Weg.

Im 20. Jahrhundert entfaltete sich Indiens Frauenbewegung - ganz dem widersprüchlichen Charakter des Subkontinents entsprechend - je nach Landesteil, Kastenordnung und Bevölkerungsstruktur auf unterschiedliche Weise. So ist die Benachteiligung von Frauen im nördlichen "Hindu-Gürtel" viel stärker ausgeprägt als im teilweise matriarchalisch orientierten Süden und erfordert andere Formen der Mobilisierung.

Inderinnen engagierten sich im Umweltschutz und zogen gegen den Raubbau an Wäldern und gegen Staudammprojekte zu Felde. Sie informierten Frauen über ihre Rechte, verschafften ihnen Kleinkredite, traten für eine Landreform ein und legten Wert darauf, dass bei der Verteilung von Boden auch Frauen berücksichtigt und als Grundbesitzerinnen registriert wurden. Politiker, Behördenchefs und Polizisten lernten allmählich, bei Entscheidungen auch die Interessen von Frauen zu berücksichtigen.

Heute nutzen Aktivistinnen moderne Medien für Aufklärungskampagnen, verteilen aber auch Flugblätter, bebilderte Bücher und veranstalten Straßentheater, um ihre Botschaften an Analphabetinnen zu übermitteln. Dass reaktionäre Inder aggressiv auf solche Aktionen reagieren, verwundert nicht. Doch selbst darauf haben Gruppen wie die umstrittene "Gulabi Gang" eine Antwort. Die in pinkfarbene Saris gekleidete Frauen-Bürgerwehr bewaffnet sich mit Stöcken und verprügelt gewalttätige Männer oder Polizisten, die sich weigern, Vergewaltigungs- und Missbrauchsfälle zu untersuchen.

Schritt für Schritt, so scheint es, nähert sich die Idee einer Frauenemanzipation Indiens Mitte der Gesellschaft. Doch die von den Hindu-Religionen im Laufe der Jahrhunderte errichteten Bremsklötze sind nur schwer aus dem Wege zu räumen. Um religiös-kulturelle Prägungen zu hinterfragen und zu korrigieren, brauchen Indiens Frauen einen langen Atem.


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